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Die gesellschaftliche Menschheit

Es ist durchaus empfehlenswert, sich nicht von den Auguren und Quacksalbern der zeitgenössischen Verwirrung abhalten zu lassen, und sich noch einmal Texte vorzunehmen, die zu Beginn unseres Zeitalters und unserer Gesellschaftsordnungen entstanden sind und zumindest zweierlei aufweisen. Zum einen eine durchaus beachtenswerte Schärfe bei der Betrachtung dessen, was da entstand und zum anderen die Fähigkeit, Prognosen zu riskieren, ohne sich vor der Peitsche der Reglementierung zu fürchten. Manches davon ist heute noch von großem Wert.

So schrieb z.B. Karl Marx bereits im Jahr 1845 in seinen Thesen über Feuerbach etwas, das sich durchaus lohnt aufzugreifen. In der 10. These heißt es:

„Der Standpunkt des alten Materialismus ist die bürgerliche Gesellschaft, der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit.“

Mit dem alten Materialismus ist auch seine Form, die des Privateigentums an Produktionsmitteln, gemeint und mit dem neuen das Gemeineigentum. Betrachtet man die Eigentumsentwicklung in der kapitalistischen Welt, dann ist, auch global, die Konzentration des Wertes aller verfügbaren Güter in der Hand weniger Plutokraten, die mit dem Gemeineigentum, seiner Entwicklung und seiner gesellschaftlichen Verfügbarkeit nichts im Sinn haben als ihre Machtakkumulation, an die Grenze des Vertretbaren gekommen. Und, wenn man an Lenins These vom Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus denkt, dann war das bei weitem noch nicht alles, was die Eigentumsform des Kapitalismus zu bieten hatte. Das Bizarre dieser Form erlebt heute seine Vollendung.

Die Konzentration des neuen Rohstoffs Wissen in den Händen weniger Besitzender, die sich als Broker betätigen, ist das Ergebnis einer bereits stattgefundenen Nihilierung bürgerlichen Rechts auf Eigentum. Denn alles, womit die großen Wissensmaschinen heute arbeiten, ist das Ergebnis eines in gigantischem Ausmaß betriebenen Raubs. Oder wurden bei der Monopolisierung des Weltwissens irgendwelche Copyrights und Autorenrechte beachtet? Interessant ist schon, dass es zur moralischen Normalität zählt, wenn diese Form des modernen Raubrittertums im kapitalistischen Zweckgewand als nicht erwähnenswert bagatellisiert wird.

Doch unabhängig von den Verlaufsformen: die Formulierung der 10. These über Feuerbach hat es insofern in sich, als dass die gesellschaftliche Menschheit den Zustand einer globalen, wie auch immer gearteten Menschheit vor Augen hat, die sich, gemäß der von ihr in einem komplexen Wirken befindliche Wertschöpfung Wege sucht, um ihre Beziehungen untereinander zu regeln. Das setzt alle bisherigen Vorstellungen von Staat und Recht außer Kraft und erfordert eine multidimensionale Betrachtung. Wertschöpfung, die Herstellung von menschheitsgerechten Gütern, die zum Wohle aller Glieder erforderliche Form von Versorgung und Konsum verfügbar macht wie die Schaffung einer Struktur, die Entwicklung, Kommunikation und Mobilität sichert und die Entfaltungsmöglichkeiten protegiert – das sind die Aufgaben, die in ein Zeitalter münden würden, das die Bezeichnung einer gesellschaftlichen Menschheit verdient.

Wie müde, inhaltsleer, verloren und unsinnig klingen dagegen die heutigen Parolen, mit denen die Menschen mobilisiert werden sollen, um das zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Die Vorstellung, der klassischen bürgerlichen Gesellschaft noch eine Zukunft bieten zu können, ist eine Illusion. Auch den Gedanken, der einem bei dieser Feststellung hilft, kann man ebenfalls bei dem Autor der Thesen über Feuerbach an unzähligen Stellen finden. Dass nämlich die Anatomie einer Gesellschaft nicht in ihrem politischen System, sondern in der politischen Ökonomie zu dechiffrieren ist. Fast könnte man mit dem Kalauer antworten: Stupid, it´s the Economy. Reden wir über die politische Ökonomie unserer Tage, dann sind wir der Beschaffenheit eines neuen politischen Systems auf der Spur. 

Die gesellschaftliche Menschheit

Die Hochrüstung und der Schalk im Nacken der Geschichte

Obwohl momentan immer wieder einmal Historiker aus der Schatulle gezaubert werden, die ihrerseits die gegenwärtige Politik als strategisch angemessen erklären, fehlt es gewaltig an einem historischen Bewusstsein, das weiterhelfen würde. Man muss nicht unbedingt diejenigen bemühen, die eine andere politische Kraft mit ihren Thesen unterstützen. Es reicht, bei denen zu verharren, die sich wissenschaftlicher Faktizität verpflichtet haben und es dabei belassen.

Und, auch das sei angefügt, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber es existieren Tendenzen, die vergleichbar sind und deren Auswirkungen durchaus das Attribut der Analogie verdienen. Zwei Historiker, die aus einer unterschiedlichen Fragestellung zur selben Analogie kommen, seien hier erwähnt. Sowohl der Brite Neill Ferguson als auch der Franzose Emmanuel Todd vergleichen die wirtschaftlich-soziale, die militär-strategische wie die mentale Lage der USA mit dem Spätherbst der Sowjetunion. Die Indikatoren, auf die sie sich beziehen, haben etwas zu tun mit der Ausgabenpolitik, aber auch mit Daten zur Lebenserwartung, Säuglingssterblichkeit, Alphabetisierung, Obdachlosigkeit etc.etc.. 

Angesichts der Virulenzen in dem Gefüge USA/EU und dem Entschluss von Ländern wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien deutet sich eine weitere Analogie an, die auch an die Zeit des Niedergangs der UdSSR erinnert. Es ist die Umschichtung der Staatshaushalte aus den Bereichen Bildung, Gesundheit und Soziales hin zur Investition in Rüstung und Militarisierung. Allein die bereits heute vorliegenden Größenordnungen deuten darauf hin, dass ein wesentlicher Zusammenhang, der zum Zusammenbruch der Sowjetunion führte, in diesen Staaten und der EU zu ähnlichen Verwerfungen führen wird.

Bevor der tumbe, in Endlosschleifen wiederholte Vorwurf russischer Propaganda hervorgeholt wird, sollte man sich mit den oben zitierten Historikern auseinandersetzen und sich selbst noch einmal die Strategie von USA und NATO im Zusammenhang mit der Hochrüstungspolitik der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts befassen. Dort galt es als dezidiertes Ziel, mit den ständigen Investitionen in neue, kostspielige Waffensysteme die UdSSR dazu zwingen zu wollen, gleichzuziehen und damit gesellschaftlich und sozial so zu schwächen, dass ihr als politischem System die Luft ausgeht. Die damalige Strategie hatte zum Ziel, mit dem Mittel der Rüstungsspirale und der durch sie erforderlichen Kosten die Sowjetunion zu besiegen und dadurch den Krieg zu vermeiden. Und die Rechnung ist, wie alle Welt heute weiß, aufgegangen.

Angesichts dieser historischen Lehrstunde sollte es dem einen oder anderen Vertreter aus den heute dominierenden Lagern vielleicht auffallen, dass sich vor allem die EU als ökonomischem Arm der NATO, zu dem sie sich entwickelt hat, in die Rolle der damaligen Sowjetunion begibt. Nicht nur, es wäre das Thema einer weiteren Betrachtung, dass sich auch hier eine von allen gesellschaftlichen Realitäten abgehobene Bürokratie etabliert hat, sondern vor allem in Bezug auf den Proporz von Investitionen in Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur hier und Militär dort. Der Moloch der Militarisierung, von dem viele Kleingeister glauben, es handele sich dabei um einen ökonomischen Booster, mausert sich zunehmend zu dem Momentum eines nachhaltigen Niedergangs. Und in diesem Kontext ist der Begriff der Nachhaltigkeit einmal richtig gebraucht.

Ich will hier nicht die so oft wiederholten Worte von Karl Marx anführen, wonach in der Geschichte alles zweimal passiere, einmal als Tragödie und einmal als Farce. Aber ehrlich gesagt, den Schalk im Nacken hat sie doch, die Geschichte.    

Die Hochrüstung und der Schalk im Nacken der Geschichte

Der Absturz der intellektuellen Kaste

In den unterschiedlichen Diskursen wird vieles beschrieben. Da ist von der manipulativen Rolle der sozialen Medien die Rede, von einer zunehmend inquisitorischen Argumentationsweise, von einer sich längst verselbständigten politischen Elite, von einer zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft, von einer unvorstellbaren Akzeptanz zumindest verbaler Gewalt, von einem gewaltigen Absturz des Bildungsniveaus in historischer und politischer Hinsicht und vieles mehr. Eines jedoch findet keinen Eingang in den Diskurs, wobei es vielleicht genau die Größe wäre, mit der die Krise des politischen Systems am besten beschrieben werden könnte: Der Absturz der intellektuellen Kaste!

Nicht, dass das Wesen des Kapitalismus durch agile, sich zu Wort meldende Intellektuelle

in seinem Kern getroffen werden könnte. Das alleine würde nie reichen. Aber die Tatsache, dass es Menschen gibt, die in der Lage wären, die tatsächlichen Triebfedern wirtschaftlicher, politischer, sozialer und kultureller Entwicklungen zu erkennen, zu benennen und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen und sich auch noch mit dieser Erkenntnis zu Wort zu melden, würde zumindest vermuten lassen, dass – rein theoretisch – die notwendige Substanz einer ernst zu nehmenden Opposition vorhanden ist. 

Und nicht, dass jetzt manche verklärten Blickes und mit feuchten Augen in die Vergangenheit blicken. Sonderlich ausgeprägt war das nie. Aber es gab sie. Diejenigen, die der Herrschaft über Dinge und Worte den Spiegel vorhielten und ihnen die impertinente Camouflage unmöglich machten. Es waren Männer und Frauen mit Verstand, Haltung und Konsequenz.

Ein kritischer Blick auf das Zeitgeschehen vergegenwärtigt, in welchen Wüstenzustand sich zumindest die amtliche und zelebrierte Öffentlichkeit befindet. Da ist nichts zu sehen. Und selbst die Genres, in denen sich die kritischen Intellektuellen unter normalen Umständen tummeln,  sind leergefegt und von Claqueuren der herrschenden Meinung bevölkert. Das ist in der Literatur so, im Journalismus und im Kabarett. Diejenigen, die die Foren und Formate dominieren, wirken wie Werbedamen von einst, die sich nicht schämen, die angeschmacktesten Lobhudeleien auf einen kriminellen Akt nach dem anderen abzusondern oder diejenigen, die zäh gegen den frivolen Zeitgeist ankämpfen, im Tone tollwütiger Straßengören zu beschimpfen. Und damit ihnen nichts peinlich wird, werden sie mit Preisen aus dem Herrschaftssyndikat überschüttet. Für ihren Heroismus, auf den bemitleidenswerten Rest der Gesellschaft herunterzuschauen.

Und es ist ja nicht so, dass man in langer, intensiver Arbeit zu Erkenntnissen vordringen müsste, um das Spiel zu durchschauen. Musste man vor vierzig Jahren noch das Kapital von Karl Marx lesen, um das Wesen des Kapitalismus zu begreifen, würde es heute schon reichen, ein Hollywood-Produkt, den Paten I-III genauer anzusehen, um zu begreifen, welche Zustände herrschen. Protektionismus, Schutzgelder, Erpressung, Plünderung und Mord sind die Mittel, über die im politischen Orbit so diskutiert wird, als sei es das Normalste von der Welt. Es ist wirklich so: das Ende dieser Geschichte ist nah. Nur eben anders, als in Zeiten des Triumphalismus gedacht. 

Dass die Intellektuellen, die vielleicht nur noch in zoologischen Gärten zu finden sind, dazu schweigen, wird ihr Geheimnis bleiben. Was noch frei herumläuft, ist ein intellektuelles Prekariat, das vielleicht noch über vieles verfügt, aber eines völlig verloren hat. Es ist das Quäntchen Courage, das man braucht, um morgens in den Spiegel blicken zu können. Selbst das bekommen die domestizierten Literaten, Journalisten und Kabarettisten nicht mehr hin. Wie war das noch? Wenn der Tod eingekehrt ist, werden die Spiegel verhängt?