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Imperiale Regeln

Mit der Implosion der Sowjetunion vor knapp einem Vierteljahrhundert war für viele die Geschichte zu Ende. Es wurden gar Bücher darüber verfasst. Der Triumphalismus kannte keine Grenzen. Der Untergang der bipolaren Welt, der unter der Chiffre des Ost-West-Konfliktes firmierte, sollte die Suprematie des Westens zur Folge haben. So sahen das viele, so hofften es viele. Aus heutiger Sicht betrachtet ist nichts von dem eingetreten. Zwar war mit der UdSSR ein gigantischer, imperialer Koloss in die Knie gegangen. Aber selbst in seinem Zentrum hatte die Erosion des sozialistisch gesteuerten Staatsmonopols nicht zur Folge, dass eine auch nur annähernd kapitalistische Produktionsweise sich etablieren konnte.

Nein, das neue Russland hielt an den Strukturen fest, an denen bereits die bolschewistische Revolution gescheitert war. Das, was Marx einst die asiatische Produktionsweise genannt hatte, und, nebenbei, diese Schriften erschienen nie in der Sowjetunion, und woran der Ökonom Karl August Wittfogel sein Leben lang geforscht hatte, eine asiatische Despotie, die über eine monopolistische Bürokratie die großen Landmassen wie die Bodenschätze beherrschte, blieb bestehen. So genannte Oligarchen griffen nach den Ressourcen, eroberten den Staatsapparat, der völlig zentralisiert war, und übernahmen das Gewaltmonopol vom einstigen Militär. Russland blieb eine imperiale Macht, die bis heute alles andere als ein Flickenteppich ist, auf dem die vermeintlichen Sieger des Ost-West-Konfliktes beliebig herum treten können.

Russland blieb ein machtpolitischer Faktor. Und die USA merkten nach und nach, dass der Triumph gegenüber dem Kommunismus nur noch gedämpft genossen werden konnte. Auch hier ist seitdem die strategische Überdehnung überall zu spüren und die Macht des Washingtoner Imperiums wird mit jedem Jahrzehnt mehr gestutzt. Das ist der Preis für die globale Dominanz, die ökonomisch mehr und mehr ins Wanken geriet und durch Mächte wie China erheblich relativiert wurden.

Eine solche Situation ist für alle Beteiligten gefährlich. Zum einen fletschen angeschlagene Tiger schon mal gerne sehr schnell die Zähne, zum anderen neigen die Kontrahenten dazu, sich gegenseitig zu unterschätzen. In diesem Kontext ist der Konflikt um die russischen Marine-Stützpunkte auf der Krim nahezu signifikant. War und ist der Prozess in der Ukraine ein Muster, das lange bekannt ist, in dem Despotie und Korruption irgendwann auf einen Punkt zustreben, an dem die Rebellion als einziger Ausweg für große Teile der Bevölkerung gesehen wird. Das System selbst stellt sich dann oft schwächer als befürchtet heraus, die rebellierenden Kräfte ihrerseits aber sind politische Novizen oder bereits Instrumente neuer Despoten, die die Karte bereits zu spielen gelernt haben. Wenn dieses alles in einer Gemengelage geschieht, in der manche glauben, man zöge ein komplexes, durch lange Traditionen verwobenes Geflecht in ein neues Lager, dann entsteht eine kritische Situation.

Russland wäre der Popanz, von dem irrtümlicherweise viele geträumt haben, wenn es einfach zuließe, ihm den Zugang zum Schwarzen Meer zu verwehren. Wer das glaubt, der lese Tolstois Berichte zu den Kämpfen um Sewastopol 1855/56, um eine Ahnung von den Tributen, Mythen und Verlusten zu bekommen, die in der russischen Geschichte aufgebracht wurden, um dieses Pfund in Händen zu halten. So etwas ließen die USA vor der eigenen Haustüre ebenso wenig zu wie China und selbst Großbritannien rasselt bereits mit dem Säbel, wenn in Spanien ein Politiker den Begriff Gibraltar in den Mund nimmt. Die Koinzidenz mit den demokratischen Kämpfen in der Ukraine verführt zu Trugschlüssen. Hier stehen sich immer noch Imperien gegenüber. Und deren Regeln sind jenseits demokratischer Diskursterminologien zu finden.

Wie tief sind wir gesunken?

Die Transformation monolithischer Staatssysteme zu einer offenen Demokratie ist ein langer Prozess. Die große Schwierigkeit, die sich damit verbindet, ist die Suche nach Artikulations- und Organisationsformen einer sich bildenden Opposition. Das ist bei jedem Übergang von Diktaturen so und es ist schwierig genug, von außen zu begreifen, was vor sich geht. Noch komplizierter wird es, wenn die staatsmonopolistischen Gesellschaften Osteuropas diesen Weg beschreiten. Sie sind allesamt geprägt von einer despotischen Bürokratie, die ihrerseits erwachsen ist aus dem, was Karl August Wittfogel als die asiatische Produktionsweise bezeichnete. Ein gutes Beispiel für einen langen, wahrscheinlich letztendlich erfolgreichen, aber auch von Rückschlägen und Umwegen geprägten Prozess zu gesellschaftlicher Offenheit ist Polen. Von der Solidarnosc bis heute war es ein weiter Weg, der noch nicht zu Ende ist.

So wie es scheint, lassen sich die Ereignisse politischer Veränderungen anhand der Namen von zentralen Plätzen beschreiben. Tahrir in Kairo, Taksim in Istanbul und jetzt Maidan in Kiew. Neu ist das nicht, man denke nur an die Plaza de Mayo zu Buenos Aires, aber die Namen dieser Plätze scheinen auch zu stehen für semiotische Zeichen des politischen Umbruchs, für den man hier bei uns im Westen kaum noch Worte findet. Zu unbekannt sind die Akteure des Widerstands, zu unkonturiert das Profil der politischen Gruppierungen, die zumeist erst im Begriff sind, sich zu formieren. Da aber die Bilder, die von diesen Plätzen gesendet werden konnten und gegenwärtig vor allen nachts von Kiews Maidan gesendet werden können alles an Dramaturgie enthalten, wovon eine mediale Inszenierung nur träumen kann, werden Zeitzeugen gesucht, notfalls auch mittels Headhunting.

So entstehen Geschichten, die mit dem beschwerlichen Prozess in einer autoritären Gesellschaft relativ wenig zu tun haben und die die Betrachtenden zu dem Schluss kommen lassen, dass es sich bei der Bewegung in der Ukraine um ein eindeutiges Votum für die Staatsformen im Mainstreameuropa handelt. Als Souffleur für diese Version der zeitgenössischen Geschichtsschreibung fungiert gegenwärtig der Berufsboxer Vitali Klitschko, der ja ein gefühlter Deutscher ist, seitdem er seine professionelle Hochkonjunktur hierzulande erlebte. Er ist ein Gesicht der Opposition in der Ukraine, aber nicht das einzige und auch kein unumstrittenes. Andere Oppositionelle kommen in der hiesigen Berichterstattung jedoch kaum vor. Das ist aber auch nicht notwendig, denn es stand von vorne herein fest, dass die rebellierenden Massen der Ukraine nichts anderes wollen als in die Arme des EU-Monopolismus. Ob das so ist, muss jedoch bezweifelt werden, denn zu schwerwiegend sind die Blaupausen für eine systemische neue Abhängigkeit.

Insofern könnte man sagen, es ist alles wie immer, tauchte da nicht jetzt, gerade passend zur Eskalation des Ganzen, die Expertin Marina Weisband auf, ihrerseits Ex-Piratin, Privatgelehrte und mediale Egozentrikerin. Ihre Expertise besteht aus der Tatsache, dass in ihrem Pass als Geburtsort Kiew steht. Da können wir heilfroh sein, jetzt doch noch Insider-Informationen zu bekommen. Analog zu Claudia Roth, die bei laufender Taxi-Uhr den Istanbuler Taksim Platz besuchte, wagte sich Marina Weisband, ihrerseits wegen der hohen politischen Qualität längst zur Bild-Ikone avanciert, auch auf den Maidan und lieferte Spiegel Online die heißesten Nachrichten per se. Und sie hat auch einen Vortrag dort gehalten über Liquid Democracy, was wahrscheinlich an revolutionärer Gestaltungskraft kaum überboten werden kann. Auf dem Maidan, auf dem die Leute Dreck und trocken Brot fressen und verzweifelt nach Verbandsmaterial suchen, lacht man nachsichtig über die Scharlatane aus dem Westen. Das Publikum hier, in den heiligen Hallen der kritischen Reflexion, sieht das ganz anders.