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Verstrahlt und drakonisch oder tolerant und sozial?

Das kann man ja auch einmal so sehen: Die Halbwertzeiten der technischen Innovation korrespondieren mit dem Verfall existenzieller Humananteile. Oder, um es volkstümlicher auszudrücken, je schneller immer neue Techniken Einzug in unseren Alltag finden, desto dämlicher werden die Akteure und desto demontierter wirkt der menschliche Körper. Und wenn wir ehrlich sind, wer von uns weiß schon, was in den nächsten fünf bis sieben Jahren passieren wird? Gibt es dann noch Knöpfe und Schalter, die wir bedienen oder brüllen wir dann bereits gammatisch-kryptische Befehle in die Richtung von Geräten, die uns dann bedienen oder tyrannisieren, je nach IQ oder Gefühlslage? Sind wir noch mit Händen oder Augen zugange, wenn wir Signale erhalten, oder schmücken bereits schöne Implantate in der Stirngegend unsere Physiognomie? Vieles steht in den Sternen, eigentlich alles, nur unserer eigener Wille nicht mehr. Das entmündigte Individuum, durch Technik und Technikglaube, steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Mittelpunkt der Gestaltung ist es nicht.

Wie fade wirkt da die Kritik, man könne doch nicht 2020 die Olympischen Spiele nach Japan, ausgerechnet gesponsert durch den Fukushima-Havaristen TEPCO und die Fußball-WM 2022 nach Katar, in das Reich des krudesten Wüstenislams katapultieren. Wenn etwas folgerichtig ist, dann die Auslagerung zweier sowieso als blanke Cash-Maschinen funktionierende Ereignisse dahin zu befördern, wo sie die Rendite in die Höhe treiben.

Hochleistungsvergleiche sind eine Blaupause für das System der Konkurrenz. Und wir wissen seit langem, dass es bei beiden Spielen um Konzepte und Materialvergleich geht. Bei der Olympiade im Lande Fukushimas wäre das Zuckerl nicht nur die Frage, wie sich das Material in einem optimalen Verstrahlungsfeld verhält, sondern wie resistent Hochleistungssportler gegen die zu vermutenden Krebsmutationen sind. Dass TEPCO sich mit dem Mäzenatentum nicht nur neu vermarkten, sondern auch noch gleichzeitig zu exkulpieren sucht, ist dabei ein willkommener Nebeneffekt.

Bei der WM in Katar stellen sich die Fragen anders, aber nicht minder pervers: Erstens, wie können Erfolgskonzepte wie das Deutsche, das auf Talenten, Toleranz und Technik basiert, in feindlicher Umgebung gedeihen? Wie kann die postindustrielle Aufklärung in der der Moderne extremst feindlichen Umgebung überleben und wie können Vorturner wie der von allen so geliebte Kaiser unwidersprochen mit ihrem Mutterwitz die Verletzung der elementarsten Menschenrechte als maßlose Übertreibung und die irrsinnige Energieverschwendung in Zeiten des globalen Umdenkens als kleiner Beischlafdiebstahl miniaturisiert werden.

Denn, so müssen wir schlussfolgern, wenn die Träger von verstrahlten Implantaten und die unterkühlten Kicker aus dem Land der Peitschenstrafen all das als Boten der Normalität in die hier gebliebene Jugend tragen, dann ist tatsächlich alles möglich: Die Anwendung jeder Art von Technik, der Menschenversuch und die Eliminierung der Zivilisation. Das wäre tatsächlich eine neue Dimension politischer Katastrophen, wie sie selbst Kriege nicht zu etablieren vermögen. Fukushima und Katar sind ein Angriff auf alles, worauf das zivilisierte Europa stolz sein kann.

Daher wäre zu bedenken, ob das Mittel des Reframing nicht einige Probleme in Europa bereinigen könnte: Die beiden Mega-Ereignisse werden zurück nach Europa geholt. Die Fußball-WM 2020 wird gemeinsam von Russland, Deutschland und der Ukraine ausgerichtet. Die Olympiade 2022 geht nicht nach Japan, sondern nach Griechenland. Die Investitionen, die das Land dringend braucht, werden ab sofort von der EU zur Verfügung gestellt, die ihrerseits dieses Mal die Banken in die Regresspflicht stellt. Europa bekäme etwas zurück von seiner Identität, und die globale Zockermentalität sähe eine erste Grenze.

Der Mann im Parka

Er bot der Strömung die Stirn. Immer. Schon in den siebziger Jahren, als viele noch mit einem Parka bekleidet waren. Er trug den zwar auch, aber er blieb dabei. Als die Rebellen sich ihre Formen suchten, fand er seine eigene. Ihm war es fremd, sich einem Dogma zu unterwerfen. Als alle noch dachten, Computer seien Teufelszeug, setzte er, der Soziologe, sich damit auseinander und wurde ein Fachmann. Gefragt von den eigentlichen Profis, wenn die nicht mehr weiter wussten. Er kam dann und löste ihre Probleme. Für sehr viel Geld. Als diese seine Fähigkeiten erkannten und ihn zu kaufen suchten, zeigte er ihnen den Mittelfinger. Er spazierte in den Etagen ein und aus, in denen man maßgeschneiderte Anzüge trug und in handgemachten Schuhen über dicke Teppiche schritt, aber er hatte keine Lust, dort zu verweilen. Mit dem Geld fuhr er in die Welt, aß und trank gut, aber lebte ansonsten einfach. Kein Kontinent, den er nicht wie ein Penner betrat und als geschätzter Gesprächspartner wieder verließ.

Zu Silvester, wenn die Feste gefeiert wurden, pflegte er in die Sahara zu gehen, weil dort die Skyline so prachtvoll sei und er sich Inspirationen holen konnte. In Japan saß er in den Fresstempeln der Sumo Ringer und diskutierte mit ihnen über die Mitte. In Chile kochte er mit den Müttern derer, die nach dem Putsch gegen Allende in den Fußballstadien zu Tode gefoltert wurden. In den USA kannten sie ihn auf jeder Greyhound Station und in den Diners, die sonst nur die Trucker unter sich und vorgehaltener Hand empfahlen. Er tauchte in China auf und hielt vor tausenden wissbegierigen Studenten in einem Fußballstadion einen Vortrag über empirische Sozialwissenschaften. Er verschiffte Jeeps nach Afrika und Taxis in den Libanon. Er reiste nach Kurdistan, als viele noch gar nicht wussten, dass es dieses Volk überhaupt gab. Als Khomeini noch in Paris weilte, pilgerte er nach Teheran und in die persische Wüste. Und natürlich fuhr er mit dem Zug die komplette transsibirische Eisenbahn. Wenn er zurück war, in Deutschland, dann kaufte er sich Festivalpässe. Für den Film, für Jazz und elektronische Musik. Dann war er komplett absorbiert. Der Mann mit dem Parka kannte alles aus diesen Genres. Was es ihm antat, das war immer das Innovative, die Avantgarde, das Unregelmäßige und Rebellische. Er sprach schon von der Verbürgerlichung des Jazz, dem er eine ähnlich verhängnisvolle Entwicklung prognostizierte wie der Oper, als dort die Großen alle noch in der Blüte standen.

Seine Sprache war ein breiter pfälzischer Dialekt, den er nie ablegte. Sein Englisch war perfekt, nur mit dieser unverkennbaren pfälzischen Intonation. Zwischendurch, wenn er nicht wieder etwas erkunden wollte oder einen dieser kniffligen Jobs machte, von dem das technische Gelingen einer Bundestagswahl oder die Logistik eines Weltkonzerns abhing, räsonierte er über die Zeit, wenn er einmal alt wäre. Mal plante er sein Alter in Japan, natürlich wegen der Spiritualität seiner Bewohner, mal in der Schweiz, wegen der grandiosen Landschaft. Ab und zu wollte er auch zurück in die Pfalz. Jeder, der ihn kannte, verlor ihn immer wieder mal für ein oder mehrere Jahre aus den Augen. Aber wenn er wieder auftauchte, auch im 21. Jahrhundert immer noch im Parka und mit zerschlissenen Jeans, dann griff er in die zeitgenössischen Debatten mit einer Kraft und Präsenz ein, die ungemein inspirierte.

Allmählich jedoch verschwand er aus den Städten, nur wenige wussten, dass er zurück in das Dorf gegangen war, woher er kam. Und obwohl er erkrankte und die Ärzte ihm geraten hatten, seine Lebensweise umzustellen, ging er seinen alten Gewohnheiten nach, aß zu üppig und liebte den Wein. Die letzten, die ihn sahen, sprachen davon, dass er innerhalb weniger Monate ein alter Mann geworden sei. Grau sei er geworden und am Stock sei er gegangen. Den letzten, zu denen er Kontakt gehabt hatte, erzählte er, er ginge demnächst ins Krankenhaus, um sich behandeln zu lassen. Kürzlich wurde er gefunden. Tot in einem leeren Haus. Sein letzter Wille stand auf einem Blatt geschrieben, bitte keine Todesanzeige, keine Zeremonie, nur verbrannt wollte er werden. Diejenigen, die sich von ihm verabschiedeten, spielten schweigend einige Free-Jazz-Platten ab, die neben seinem Leichnam gelegen hatten. Der Mann im Parka wurde 63 Jahre alt.