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Der einbetonierte Kompass

Ein ehemals prominenter Sozialdemokrat schrieb in seinen Memoiren, dass während seiner aktiven Zeit eines seiner Traumata aus dem Auftreten der Traditionalisten entstanden war. Immer, wenn er zu Parteiveranstaltungen vor Ort gegangen sei, hätten sie dort gesessen, immer gewusst, was zu machen sei, mit einbetonierte Kompass. Das Bild hat Wucht. Wer sich jetzt die Hände reibt und zu dem Schluss kommt, große Teile der SPD seien damit gut beschrieben, sollte sich etwas Zeit lassen. Denn der einbetonierte Kompass steht nicht nur bei allen Parteien in den Zentralen, sondern überall, in jeder Firma, in jedem Verein und in jedem Haushalt. Es handelt sich um ein Massenphänomen, das vielleicht sogar aus unserem Nationalcharakter gehört, den die euphorischen Globalisierungsgewinner fälschlicherweise und folgenschwer leugnen und in dem der Terminus der „German Angst“ eine zentrale Rolle spielt. Der einbetonierte Kompass ist besonders in Deutschland sehr verbreitet und er erfreut sich momentan wieder eines massenhaften Absatzes.

Auf der phänomenologischen Ebene handelt es sich um den Habitus, immer alles aufgrund einer einmal erworbenen Weltsicht erklären zu können. Nicht nur, dass Erkenntnisse nun einmal immer in einem historischen Kontext gelten, sondern auch die Attitüde, die daraus resultiert, ist beschämend. Menschen mit einem einbetonierten Kompass sind zumeist ein Ausbund an Dogmatismus und Intoleranz. Oft reicht die Anregung, noch einmal über das eine oder andere, das gesetzt ist, nachzudenken, um einen Sturm der Entrüstung und eine Totalblockade hervorzurufen. Dann geht das Kesseltreiben gegen diejenigen los, die nach neuen Einsichten streben.

Und noch einmal, wer meint, es handele sich exklusiv um ein Phänomen der Sozialdemokratie, liegt falsch. Ebensowenig ist der Typus nur im konservativen Lager zu finden, sondern, vielen wird das nicht schmecken, auch bei denen, die für sich reklamieren, sogar revolutionär zu sein. Besonders dort sind die Sanktionen gegen die, die zementierte Wahrheiten neu beleuchten wollen, besonders drakonisch. Da muss nicht der legendäre Eispickel aus Mexiko zitiert werden, der im Kopf Trotzkis landete. Auch aktuell werden von selbst definiert Links bis Rechts Existenzen vernichtet, wenn sie den eingebauten Kompass im falschen Moment ignorieren.

Die Gewissheiten, die aus der zementierten Lebensroute resultieren, sind beruhigend und ein wunderbares Narkotikum gegen die Lebensangst. Insofern ist das Verständnis für die Motive des eingebauten Kompasses sehr wichtig, um an die Demontage dieses Instruments zu gelangen. Denn eine tatsächlich innovative, vielleicht auch revolutionäre Herangehensweise an die Fragen der Zeit kann nur gelingen, wenn der aggressive Skeptizismus derer, die schon immer alles wussten, überwunden werden kann. Dazu gehört die Überwindung der Angst gegen den Identitätsverlust. 

Denn neben der Angst, sich auf unbekanntes Terrain begeben zu müssen und somit verletzlich zu sein, gesellt sich die noch weitaus größere Furcht davor, nicht mehr als das, was man sich mühevoll erworben hat, von außen identifiziert zu werden. Damit handelt es sich bei dem einbetonierten Kompass also auch um einen vermeintlich identitätsstiftenden oder zumindest identitätserhaltenden Mechanismus. 

Es reicht nicht, die Notwendigkeit neuer Fragestellungen und Hypothesen mit den praktischen Erfordernissen der Gegenwart zu begründen. Es ist notwendig, auch die Relativität der vermeintlich gesicherten Existenz mit ins Spiel zu bringen. Wer in Zeiten großer Veränderungen darauf beharrt, dem einbetonierten Kompass stur zu folgen, wird das befürchtete Desaster nur wahrscheinlicher machen. Beim Kurs auf den berühmten Eisberg ist alles vonnöten, nur nicht das sture Festhalten am alten Kurs. Da verwundert schon manchmal die zur Schau getragene Arroganz derer, die auf der Brücke stehen und „volle Kraft voraus“ schreien.   

Se questo è un uomo

Heute vor 70 Jahren wurden die noch überlebenden Insassen des Konzentrationslagers Auschwitz von der Roten Armee befreit. Es war das Ende dessen, was der deutsch-jüdische Philosoph Ernst Bloch als das Unsägliche bezeichnet hat. Damit fand er einen Begriff für das, was sich der menschlichen Vorstellungskraft entzieht. Allein in Auschwitz wurden mehr als eine Millionen Menschen fabrikmäßig ermordet. Alles, was sich danach an Trauer und Trauerzeremonien vollzog, konnte nicht dem entsprechen, was dort geschah. In deutschem Namen. Organisiert von einer Bürokratie, deren Kadergedanke bis heute weiterlebt.

Es existieren viele, bewegende, Herz zerreißende und furchtbare Berichte über die Menschen, für die Auschwitz das Ende ihrer menschlichen Existenz werden sollte. Ein Ende ohne Würde, ein Ende ohne Respekt und ein Ende ohne Hoffnung. Nur wenige überlebten. Einer davon war Primo Levi. Seinerseits italienischer Jude, Chemiker und Schriftsteller, der als junger Mann nach Auschwitz deportiert wurde und dennoch überlebte. Er ist aus meiner persönlichen Sicht der einzige, der jenseits der psychischen Belastung dazu in der Lage war, den Prozess der Entmenschlichung, der dem Gedanken von Auschwitz zugrunde lag, kalten Auges zu beobachten und zu beschreiben.

In seiner Schrift „Ist das ein Mensch?“ ist es nachzulesen. Der ausgereifte, durchdachte Mechanismus, der den Menschen die Würde, die Selbstachtung und die Hoffnung nahm. Geplant und durchgeführt von Beamtenseelen, die nicht unbedingt glühende Nazis sein mussten, um sich mit Inbrunst der Perfektionierung des Systems zu widmen. „Ist das ein Mensch?“ ist ein kaltes wie erschütterndes Dokument. Der Autor, Primo Levi, hielt sein Überleben 40 Jahre lang aus. Dann, 1987, stürzte er sich 68jährig in den Treppenschacht seines Hauses in Turin und setzte seinem Leben, das geprägt war von der Rückbetrachtung Auschwitz´, ein Ende.

Während die politische Basis dessen, was Auschwitz möglich gemacht hatte, von Anfang an bei der Verarbeitung dieses Fiaskos auf der Agenda stand, wurde genau das, was Primo Levi in seiner Schrift beschrieben hatte, ausgespart. Intoleranz, Fremdenhass und Dogmatismus gelten seit Auschwitz als Ursache für den Holocaust. Und ohne spitzfindig hinsichtlich der Kausalität werden zu wollen, ist es eine treffende Analyse. Das wie ein Mantra seitdem vorgetragene Ansinnen, dass sich so etwas wie Auschwitz nie wiederholen dürfe, ist ehrenwert, bezog sich aber immer auf diese vermeintlich evidente politische Dimension. Dass selbst das bis heute nicht als gelungen bezeichnet werden kann, bezeugen wir alle in diesen Tagen. Es ändert allerdings nichts am Auftrag und seiner Gültigkeit.

Was aber im Land der Täter komplett ausgeblendet wurde, ist die Tatsache, dass eine staatliche, technokratisch funktionierende Maschinerie die Perfektion des Grauens ausmachte. Ein Beamtenapparat, der für sich reklamieren konnte, nicht der Politik im Sinne des gemeinschaftlichen Diskurses verpflichtet zu sein, sondern einzig und allein der Effizienz des Systems, schuf die Vision des Grauens, angesichts dessen bis heute die Sprache versagt. Von den Arisierungen bis Auschwitz war eine Klasse am Werk, die es weltweit so nicht gab und bis heute gibt, außer in Deutschland.

Die politische Renaissance der Intoleranz ist in voller Blüte, die Maschinerie, die die Entmenschlichung realisierte, ist immer noch funktionsfähig. Heute, am 70. Jahrestag der Befreiung der Überlebenden von Auschwitz durch die Rote Armee, ist radikaleres Denken und Handeln erforderlich, um Analogien zu verhindern, als gemeinhin angenommen.

Mitten im Sommer

Mitten im Sommer, gut eine Woche nach Erlangung des Weltmeistertitels seitens der deutschen Fußballnationalmannschaft, wird es heiß getrieben seitens der mit Steuermitteln finanzierten Propagandaindustrie. Da ist zunächst der Abschuss einer aus den Niederlanden kommenden malaiischen Passagiermaschine über dem Territorium der Ukraine. Es erübrigt sich, zu beschreiben, wie heikel und explosiv die Situation dort ist, auch in Bezug auf mögliche Konsequenzen in ganz Europa. Doch weit ab davon, Sorgfalt und Räsonnement bei der Beurteilung der Katastrophe walten zu lassen, stehen von vorneherein die Übeltäter fest. Es sind die russischen Separatisten, die selbstverständlich von Putin persönlich gesteuert werden.

Das suggerieren alle Medien, sei es durch direkte Suggestivfragen oder durch die Platzierung der Nachrichten, wie erst eine Meldung zum Abschuss der malaiischen Maschine, dann eine Meldung zu Putin. Dass die ukrainische Regierung das Verbrechen den Separatisten zuschreiben würde, war klar, dass die USA den Verdacht sofort, sehr zeitnah, lancierten, ist diplomatisch genauso ein Gau wie die frühe Festlegung durch deutsche Politiker. Erstaunlich ist allerdings die Tatsache, dass die Separatisten, auf deren Terrain das Wrack nun liegt, den Flugschreiber an internationale Ermittler übergeben haben. Da ist Spannung angesagt, wie die Deutung, völlig unabhängig von dem Ergebnis, seitens der psychologischen Kriegsführung ausfallen wird.

Die öffentliche Berichterstattung vor allem durch das ZDF in Sachen Gaza und Israel ist relativ eindeutig dem verkommenen Moralismus antisemitischer Prägung verpflichtet, in der ARD bemüht man sich zumindest um Differenzierung. Mit dem Kontrollorgan demokratischer Willensbildung hat das jedenfalls alles nichts zu tun. Die Ächtung von Kriegsverbrechen, die in diesem Konflikt zum Standard zu werden drohen, findet wenn, dann nur einseitig statt. Doch das hat seit dem Balkankrieg in den neunziger Jahren bereits Tradition. Da waren exklusiv die Serben die Bösen und Opfer auf dieser Seite des Konflikts wurden bis heute verschwiegen. Der verfettete Kriegstreiber, den die Grünen zuletzt zum Europawahlkampf noch einmal aus den Requisiten des Revanchismus geholt haben, glänzte dort mit der gleichen Rhetorik wie bei seinem Initiationsritual während der Balkankrise: Wer in der Ukraine zu differenzieren suche, so sinngemäß seine Worte, sei ein Anti-Amerikaner und ein Befürworter des russischen Imperiums.

Wer derartige Auftritte politisch zu verantworten hat, der darf sich nicht wundern, wenn es zu Reflexen kommt, die sich mehr dem Original als der Kopie zuwenden. Kriegstreiberei, Intoleranz und Dogmatismus führen nach rechts, egal unter welcher politischen Camouflage betrieben. So wundert es nicht, dass bei vielen Kommunalwahlen im Mai auch faschistische und nationalistische Kräfte in den Stadtparlamenten landeten. Begünstigt wurde ihr Erfolg vor allem in Baden-Württemberg durch ein neues Wahlrecht, dass aus einem anderen Kalkül politisch durchgewunken wurde und nun zu der berechtigten Verärgerung führt. Die Proteste gegen die Nazis sind wichtig, aber, und das ist das Entscheidende, sie sind nur dann glaubwürdig, wenn sie über die rituelle Waschung hinausgehen. Besagte Kriegstreiberei, besagte Intoleranz und besagter Dogmatismus sind die Wurzeln einer drohenden Radikalisierung. Den Initiatoren dieser Formen der Mystifikation haftet jedoch bis heute das positive Stigma eines friedlichen und alternativen Lebenskonzeptes an. Das zu dechiffrieren, ist nicht so ohne. Aber es geht, wenn die mit diesen Kräften einhergehende tägliche Diskriminierung großer Bevölkerungsteile entlarvt und kritisiert wird. Genauso wie die durch diesen Geist beflügelte öffentlich-rechtliche psychologische Kriegsführung, die sich längst von einem kritischen Journalismus verabschiedet hat.