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Die Macht der Verklärung

Nichts ist gefährlicher als die eigene Verklärung. Warum gefährlich? Weil sie dem Selbst ebenso ein falsches Bild übermittelt wie den anderen, die auch angesprochen werden sollen. In diesen Tagen ist wieder so eine Gelegenheit für die Verklärung. Die Grünen feiern ihr vierzigjähriges Bestehen und sie selbst wie eine Menge von Chronisten fügen Ereignisse zusammen und versuchen ein Bild zu malen, das der Geschichte einigermaßen gerecht wird. Dass das schwierig ist, ist zweifelsfrei, denn die Grünen waren eine Reaktion auf verschiedene Ausdrucksformen, die in der Gesellschaft herrschten und sie verstanden sich zunächst als Sammlungsbewegung. Letzterer ist zu eigen, dass sich verschiedene, höchst unterschiedliche Strömungen dort finden, die nicht unbedingt miteinander korrespondieren müssen. Ich habe in meinem Gedächtnis gekramt und nach Eindrücken, Begegnungen und Einschätzungen gesucht, und es entstand ein Bild, das ich so gar nicht erwartet hatte.

Da waren die ersten Treffen, die so bunt waren, wie es heute gar nicht mehr existiert. Schräge Vögel wie den Bauern Baldur Springmannn, exaltierte Pazifistinnen wie Petra Kelly und ihren General und Vertreter, die aus dem Maoismus kamen, wie Ebermann und Trittin. Und natürlich die Frankfurter Fraktion mit Dominas wie Cohn-Bendit und später Fischer. Das alles geschah zu einer Zeit, als der Kalte Krieg noch tobte und Abrüstung eine Option sein sollte. Und sie griffen den Gedanken des Umweltschutzes auf, den niemand bis dahin auf dem Schirm hatte.

Sehr positiv war, dass diese neue Bewegung dem vorher in allen Lagern vorherrschenden Dogmatismus abschwor und nahezu libertäre Züge trug. Was der anfänglichen Aufbruchstimmung sehr schnell einen herben Rückschlag verschaffte, waren die intensiv und lange geführten Debatten über sexuelle Kontakte mit Kindern. Die Bedeutung und die Lautstärke dieser irrsinnigen Diskussion wird bis heute unterschätzt und sie führte dazu, dass der Idee der neuen Bewegung  viele gute Köpfe verloren gingen, weil sie sich abwandten. Der bis heute mysteriöse Selbstmord von Bastian und Kelly war auch so ein Ereignis, das nicht nur Verstimmung hinterließ.

Mit der Etablierung zur Partei, die in Parlamenten vertreten war und die allmählich auch Regierungsverantwortung übernahm, änderte sich sukzessive vieles. Der Gedanke pazifistischer Politik ging radikal verloren. Die aktive Beteiligung an dem völkerrechtswidrigen Kosovo-Krieg bildete den dramatischen Auftakt, die Unterstützung der NATO-Osterweiterung und die Kriegshetze, die von Teilen der Grünen gegenüber Russland formuliert wird, sind der entsetzliche Endpunkt eines Pokers um die Macht, in dem ein Steckenpferd willentlich verhökert wurde. An diesem Spieltisch saß ein grüner Außenminister, Joschka Fischer, der heute in einem amerikanischen Think Tank sitzt und die Großmachtpläne des amerikanischen Imperiums unterstützt. 

Die anfänglich toleranten, liberalen, emanzipatorischen Ansätze sind, ebenfalls im Laufe der Jahre, einem Ensemble von Dogmatismus getragenen Gesetzen und Verhaltensvorschriften gewichen. Die Leichtigkeit, mit der der gesellschaftliche Diskurs geführt wurde, ist durch eine  starreHaltung der Beharrung ersetzt worden. Die Muster sind und waren immer Weltuntergangsszenarien, aus denen sofortige Maßnahmen abgeleitet werden müssen, ansonsten geht das Dasein den Bach herunter. Wer nicht mitmacht, opfert die Welt, Angst und Hysterie sind oft die Trigger, nicht die Ratio. Und das Recht, sich zu dieser Ideenwelt im Gegensatz zu befinden, existiert nicht. Die Antwort ist Ausgrenzung. Mit Emanzipation hat dieses Besteck nicht mehr viel zu tun. 

Obwohl sich immer noch viele Menschen dieser Bewegung anschließen, weil sie in an die positive Zielsetzung, Emanzipation, Frieden und Ökologie glauben, hat sich vieles in das Gegenteil verkehrt. 

Die pure Barbarei

Was, wenn sich Menschen falsch verhalten? Wenn sie Fehler machen, die nicht zu verzeihen sind? Wenn sie so weit gehen, dass sie ihre Macht über andere Menschen missbrauchen? Zivilisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Rechtssysteme entwickeln, die sich nicht auf Emotion und Ressentiment, sondern auf eine sinnvolle Markierung gesellschaftlicher Regeln und Interessen setzen, die für alle gelten. Für Täter wie Opfer, für die, die bewusst gegen das Regelwerk vorgehen und für die, die es unbedacht machen. Für alle ist gesorgt, was zählt, ist das Delikt und der damit verbundene Versuch der Gesellschaft, Recht walten zu lassen oder wieder herzustellen. Dazu zählt auch, den Tätern die Chance zu geben, zurück in das gesellschaftliche Leben zu kehren. Die permanente Ächtung ist etwas, was zu den barbarischen Kulturen zählt und in der modernen bürgerlichen Gesellschaft abgeschafft wurde.

Bis der aus dem amerikanischen Protestantismus und der europäischen metaphysischen Entsagung entsprungene Kodex dessen auf der Bildfläche erschien, was allgemein als political correctness bezeichnet wird. Hier findet sich eine Ansammlung aller möglichen ideologischen Versatzstücke, die etwas mit vermeintlichem Humanismus, mit religiöser Verdauungsphilosophie und einem sakralen Verständnis von Ökologie zu tun haben. Also mit allem möglichen, nur nicht mit dem bürgerlichen Recht. Dennoch besitzt dieser Kodex für viele eine hohe Attraktion und es ist zu beobachten, dass er bis in die höchsten politischen Kreise nicht nur gedrungen ist, sondern in vielerlei Hinsicht eine weitaus größere Rolle spielt als die bürgerlichen Rechtsvorstellungen. 

Grundlage des bürgerlichen Rechts ist die Freiheit des Individuums. Diese Freiheit und ihr Schutz steht im Mittelpunkt. Es geht vor allem um die reibungslose Koordination der Individuen in ihrem Verkehr untereinander. Die zentrale Überlegung dabei ist die der Einsicht. Einsicht in Notwendigkeit, Einsicht in eigene Einschränkung, Einsicht in die Sinnhaftigkeit dessen, was die Freiheit der anderen von dem Individuum verlangt, das sich seinerseits selbst frei entfalten will. Das erfordert ein gewisses Abstraktionsvermögen, sonst funktioniert es nicht. 

Im Gegensatz dazu besteht der Kodex der political correctness aus Verboten, die sich nicht aus dem, was gesellschaftliche Vernunft genannt werden kann, ableiten lässt. Es ist ein Kodex der gesellschaftlichen Sanktion ohne zugrundeliegendes Rechtssystem, sondern Sanktionen aufgrund einer Ideologie derer, die ihn bedienen. Da die political correctness nicht auf die Staatsgewalt zurückgreifen kann, bedient sie sich des Mittels der gesellschaftlichen Ächtung. Wer gegen den im Dunkeln entstandenen Kodex verstößt, der wird geächtet, notfalls existenziell vernichtet. Das betrifft die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und, wenn es dumm läuft, währt es ein Leben lang. Wenn etwas jenseits der Barbarei mit den Betreibern der political correctness gemein hatte, dann war es die Inquisition der katholischen Kirche und der Kodex, mit dem die modernen Moralisten vorgehen, entspricht dem gefürchteten Hexenhammer.

Bei aller Wachheit gegenüber den Angriffen auf das bürgerliche Rechtssystem durch rechte Geheimbünde und den Tiefen Staat sollte immer im Bewusstsein bleiben, dass dem eine gewaltige Aggression durch die Apologeten der political correctness entspricht. Indiz dafür ist die allgemein politisch akzeptierte wie präsente Moralisierung von Politik. Da atmet aus jeder Pore bereits die Attacke auf alles, was die bürgerliche Revolution hervorgebracht hat. Es ist der Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung. Es ist die pure Barbarei. 

Es lebe die Spontaneität!

Dass wir in Zeiten leben, in denen der Intellekt immer weniger beansprucht würde, ist eine boshafte Übertreibung derer, deren Bildungsstandards nicht mehr die maßgeblichen sind. Geändert, was die Beanspruchung einer Instanz wie Verstand oder Vernunft betrifft, geändert hat sich dennoch vieles. Wer agiert lediglich unbedacht? Wohl wirklich wenige, wenn wir die juvenile Unbefangenheit einmal aus dem Spiel nehmen. Ob etwas vernünftig ist, diese Frage ist zu Recht beklagenswerter Weise sehr aus dem Fokus geraten. Ob etwas allerdings dem Kodex, dem herrschenden Regelwerk, entspricht, das ist die dominierende Größe, die alles beherrscht.

Und wiederum böse Zungen behaupten, dass die an Bibelfestigkeit gleichende Verpflichtung auf den Kodex des politisch Korrekten zum Beispiel die spontane Kreativität, die bekanntlich die Revolte an sich auslöset, keine Chance mehr hat, unser Leben zu bereichern und zu verändern. Die anderen Kodizes, die mit den Regeln der eigenen Organisation oder der Verrechtlichung des gesamten Lebens zu tun haben, und die ohne Maschinerien wie die überall aufpoppenden Compliance-Systeme den Handlungsspielraum des Individuums einschränken, geben der Spontaneität den Rest.

Es gab Zeiten, in denen Spontaneismus als eine politische Bewegung galt, die sich damals ihrerseits von den Regelwerken des dogmatischen Marxismus befreien wollte. Die so genannten Spontis zeichneten sich dadurch aus, dass sie sich Aktionen ausdachten, die in der Lage waren, auf humorvolle Weise die Logik der Herrschenden zu karikieren oder zu konterkarieren. Als sie in Heidelberg zu einer Demonstration mit dreißigtausend Teilnehmern auf die kleinen Straßen gingen, um gegen das damals angewendete Berufsverbot in öffentlichen Dienst zu protestieren und das Städtchen in der Aktion nahezu ertrank, skandierten sie „Wir sind eine kleine, radikale Minderheit“. Später, als der Humor verschwand, hatte die Bewegung, die sich spontan nannte, keine Relevanz mehr.

In unserer Welt der Kodizes ist der politische Spontaneismus genauso verschwunden wie die Spontaneität. Letztere steht regelrecht auf dem Index all derer, die an der ständigen Ausdehnung der Kodizes arbeiten. Für die politische Willensbildung wie den politischen Diskurs bedeutet diese Entwicklung jedoch Gefahr im Verzug. Wenn es nicht mehr erlaubt ist, die Gravität von Akteuren und Institutionen mittels des Humors und der unerwarteten Handlung zur Disposition zu stellen, dann befinden wir uns bereits im Vorraum der Inquisition.

Im Gegensatz zu denen, die ihre brüchige Bedeutsamkeit gefährdet sehen und alles dafür tun, den Prozess der möglichen Demontage zu verhindern, hat das Volk in seinem kollektiven Bewusstsein eine sehr ausgeprägte Ahnung von den Verheerungen, die inquisitorische Verhältnisse anrichten können. Deshalb sind viele so genannte unbescholtene Bürgerinnen und Bürger so wild geworden. Weil sie die Fragen, die sie haben, mit dem Verweis ihrer mangelnden Auffassungsgabe nicht beantwortet bekommen und weil man ihnen den Weg zur spontanen Aktion mit der moralischen Keule verwehrt. Was dann noch kommt, ist destruktive Verbitterung.

So ist es nicht nur leicht, sondern auch folgerichtig, der spontanen Aktion, ja auch im anarchistischen, jede Ideologie ablehnenden Sinne, mächtig das Wort zu reden. Die sauertöpfischen Mienen der politischen Klasse, oben an die Mutter der Nation, färben ab auf das Erleben von Politik. Es wird Zeit, sich selbst und den tragenden Säulen der Misanthropie die Narrenkappe aufzusetzen. Es lebe die Spontaneität!