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Gehe an die großen Dinge mit Leichtigkeit

Ein roter Faden zieht sich durch das menschliche Handeln und seine Deutung. In jedem Kontext wird die Betrachtung angestellt, inwieweit jedes Individuum in der Lage wäre, in großen Zusammenhängen zu wirken. Und es hat den Anschein, als ob viele Menschen einer Art optischer Täuschung unterlägen, die das Bild erzeugt, jeder für sich könne nur den profanen Kleinkram verrichten, in dem er oder sie sich bewege, aber nichts ausrichten in der großen Choreographie des menschlichen Seins. Die daraus resultierende Sentenz lautet dann auch immer: Was kann ich in diesem großen Spiel schon ausrichten?

Eine bessere Illustration für einen Defätismus, der aus einer mangelnden Reflexion des gesellschaftlichen Seins, sprich einer philosophischen Überlegung über die Welt und sich selbst entsteht, kann es nicht geben. Es ist der Endpunkt eines Entmündigungsprozesses, der damit begann, die Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Selbstreflexion im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Sein nicht mehr zu vermitteln und stattdessen die Befindlichkeit in den Fokus jeglichen Räsonnements zu stellen. Sprich, die Menschen haben verlernt, sich kritisch distanziert in ihrem existenziellen Kontext zu analysieren und sind stattdessen zunehmend ausgestattet worden mit Befriedigungsskalen, die alles über Sättigung, aber die nichts aussagen über Notwendigkeiten und Zusammenhänge des Seins. Der daraus entstandene politische Defätismus führte zu der politischen Passivität, in der sich dieses Land trotz Turbulenzen seit einiger Zeit befindet. Es wird gejammert, aber nicht gehandelt, weil das Handeln vermeintlich keine Änderung bewirken kann.

Die europäische Philosophie hätte genügend Figuren aufzuweisen, die auf den Zusammenhang des „kleinen“ Handelns auf die großen Zusammenhänge zu verweisen. Sie werden in den Bildungsplänen selten protegiert, was angesichts der beschriebenen Wirkung kein Zufall sein dürfte. Die Widerspiegelung des Kosmos im Detail ist durchaus eine der vernünftigeren Positionen in der Aufklärungs- und Aufbruchstheorie der Neuzeit. Das einzige, was sie nicht zu vermitteln in der Lage war, ist eine existenzielle Demut, die dem neuzeitlichen Kult der Individualisierung widerspricht. Wenn es aber darum geht, die absurde Entwicklung eines überhöhten Individuums zu einem entmündigten Ichkannnichtsausrichten zu stoppen, dann wäre es an der Zeit, sich aus anderen globalen Kontexten wie des asiatischen Reflexionen Hilfe zu suchen.

Dort wird immer wieder auf den Konnex zwischen Kosmos, Individuum und Gesellschaft verwiesen und es ist dort geradezu ein Gassenhauer, dass die Welt im Detail liegt. Der menschliche Mikrokosmos und der Stoffwechsel des Individuums mit ihm prädestiniert den großen Zusammenhang, ohne dass daraus eine zeitlich messbare Prognose würde, was das Individuum, ist es einmal entschlossen in der Dimension der Konsequenz zu leben, aushalten muss. Das, was diesen Betrachtungen nicht abgewonnen werden kann, ist die Garantie einer festen sozialen Pragmatik. Insofern ist es immer heikel, mit den Erwartungen aus der einen Hemisphäre in die andere zu wandern und umgekehrt. Was hilft, ist die Überlegung an sich. Sie heißt: Du kannst nicht nur, du wirst etwas bewirken.

Ein Partikel der menschlichen Existenz als Setzung für das kosmische Regelwerk führt zudem zu Konsequenzen, die sehr inspirierend für das eigene Handeln sein können. So heißt es auch, man solle die großen Dinge mit Leichtigkeit, die kleinen, profanen Aktionen aber mit großer Mühe und Konzentration erledigen. Das ist nicht nur folgerichtig, weil es darauf hinweist, dass das Große von dem Kleinen abhängt, sondern auch darauf deutet, dass die Meister des Kleinen keine Angst haben müssen, sich des Großen anzunehmen. Darüber sollten wir nachdenken.

Über das Warten

Von Zeit zu Zeit geht mir das Zusammentreffen mit einem alten Bekannten durch den Kopf, den ich irgendwann auf einem Bahnhof dieser Republik traf. Auf meine Frage hin, was er denn ausgerechnet dort treibe, antwortete er mir ohne Umschweife: Das Wo ist gleichgültig, ich stelle mich dem Warten. Oder um genau zu sein, ich übe mich darin.

Damals, in Eile, ging ich mit einem Stirnrunzeln schnell weiter und dachte darüber nach, wie schräg dieser Bekannte oft an die Dinge heran ging. Erst mit der Zeit bildete ich mir die Meinung, dass der schräge Zugang auf bestimmte Dinge nicht selten sehr produktiv enden kann. Das scheinbar Absurde birgt oft eine Prise Genialität und das allzu Rationale fördert oft eine Stumpfheit zutage, die erschrecken kann.

Was das Warten anbetrifft, so haben wir es zumindest mit drei Hauptkategorien zu tun, die der Reflexion würdig sind. Während es sich bei der ersten Art um die wohl profanste handelt. Es ist das Warten auf etwas Drittes, auf eine konkrete Ankunft oder ein konkretes Ereignis. Außer dass wir es sind, die warten, haben wir aber mit dem Fortgang des weiteren Geschehens weiter nichts oder nur wenig zu tun. Es ist das Warten eines Objektes auf andere Subjekte. Nennen wir es passives Warten, das uns nicht weiter interessieren soll.

Bei der zweiten Kategorie, die ich oft in Asien antraf, handelt es sich um das so genannte dynamische Warten. Damit wird ein Zustand bezeichnet, indem alles getan wird, um in einer bestimmten Situation, die noch nicht eingetreten ist, handlungsfähig sein zu können. Die Entscheidung, ob die Situation eintreten wird, ist noch nicht gefallen, aber die Wahrscheinlichkeit und der Wille, dass es so kommen wird, ist sehr stark ausgeprägt. Aufgrund dessen wird der Fall vorbereitet, wo das spekulierte Szenario greift. Alle, die proaktiv sein wollen, müssen des dynamischen Wartens mächtig sein. 

Und die dritte Kategorie bezeichnet eine Konstellation, in der es ziemlich sicher ist, dass etwas eintritt. Die davon betroffenen Akteure haben bereits einen Plan und eine Choreographie für den Moment. In der Regel wissen sie bereits genau, was zu tun ist, wenn der Fall eintritt und sie beschäftigen sich in der verbliebenen Zeit bis zum Casus X mit lockeren Übungen, um nicht doch im letzten Zeitpunkt kalt erwischt werden zu können. Diese Form des Wartens wird treffend mit dem souveränen Warten beschrieben.

Von den genannten drei Arten des Wartens ist entspricht die erste am ehesten dem Bild, das wir uns umgangssprachlich von dem Phänomen machen. Es ist die passive Form des Wartens, die Degradierung des Subjektes zum Objekt. Die Kategorien 2 und 3, das dynamische wie das souveräne Warten, gehören exklusiv dem Subjekt. Diejenigen, die es gewohnt sind, Prozesse zu gestalten und zu handeln, sind nicht davor gefeit, immer wieder einmal ins Stocken zu geraten und warten zu müssen, aber sie nutzen diese Zeit, um sich für den folgenden Zustand der Beschleunigung und Gestaltung handlungsfähig zu machen. 

Die Übung, die sich daraus für das Leben ableitet, ist die genaue Beobachtung von Individuen, Organisationen und Staaten, was sie machen, wenn es zum Stillstand kommt. Sehr schnell wird offenbar, ob wir es mit Subjekten oder Objekten, mit Gestaltern oder Gestalteten zu tun haben. Auch das Warten verschafft der Diagnostik erkenntnisreiche Zugänge. 

Die Renaissance des Empiriokritizismus

Die Geschichte ist ein Rondo. Ganz wie die musikalische Figur aus der Renaissance scheint so einiges zu funktionieren. Immer, wenn es sich um den Lauf der Dinge dreht, und immer, wenn es um die Erkenntnis über die Welt geht, treten bestimmte Analogien auf, die mehr dem menschlichen Grundmuster zu entspringen scheinen als dem Zeitgeist. Das ist so zu beobachten bei Staatsformen, das ist so zu beobachten bei bestimmten Regierungsstilen. Es ist aber auch so, wenn es um bestimmte Moden geht, sei es bei der Kleidung und dem sozialen Verhalten, sei es bei Modellen der Welterklärung. Es ist spannend. Denn bei der historischen Betrachtung öffnen sich plötzlich Perspektiven, die bei der Erklärung der Gegenwart behilflich sein können.

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hatte in vielerlei Hinsicht die Genetik für große Ereignisse. Dass sie in dem bis dato desaströsesten Krieg aller Zeiten aufgehen sollte, war nicht von Anfang an sicher. In der Kunst wirkte noch das Fin de Siècle nach, eine Art Endzeitstimmung, die bereits suggerierte, dass so viel Anfang noch nie vorher war. Das ging bis zu Dada, einer radikalen Form des Avantgardismus, die vor allem mit der Zerstörung des Ganzen und der Etablierung des Schocks arbeitete. Die Kunst, so könnte man sagen, kam der folgenden Apokalypse emotional sehr nahe. In der politischen Theorie erhob sich mit aller Macht der sozialdemokratische Korporatismus, der sich seinerseits vor einer Art Endkampf mit der ständischen Gesellschaft befand. Und in der Philosophie schwankte die Welt der Erkenntnis zwischen den neuen Gewissheiten des Materialismus und der zunehmend an Verve gewinnenden Teleologie des Individuums.

Gerade letzteres ist sehr erhellend. Die in dieser Zeit sehr gefeierte Theorie des Empiriokritizismus war genau die passende Antwort auf die Moderne, den mit ihr einhergehenden Industrialismus und das Bedürfnis nach kollektiven Lebensmodellen. Es war die erst große Überhebung des Individuums als Endzweck der Geschichte. Der Lehrsatz des Empiriokritizismus, seinerseits die Mutter aller bis heute folgenden positivistischen Ansätze, ist die einfache Feststellung, dass sich die vergegenständlichte Welt nur da abspielt, wo wir sie als Individuum wahrnehmen können. Alles, was außerhalb dieser Wahrnehmung stattfindet, findet gar nicht statt und ist Illusion. Dass es ausgerechnet Lenin war, der dieser Erscheinung des Zeitgeistes ein ganzes Buch widmete und seine Vertreter Mach und Avenarius regelecht mit seiner Feder sezierte, wundert da nicht mehr. Materialismus und Empiriokritizismus hieß das Buch, und damit war alles gesagt.

Nun, der Empiriokritizismus ist in Form des zeitgenössischen Positivismus bereits wieder seit langem en vogue. Und die Kernaussage ist bereits seit Dekaden formuliert: Die Welt existiert nur dort, wo meine Vorstellung ist. Und wo ich nicht bin, da ist kein Sein. Das erkennen wir sofort als die große Daseinsphilosophie des Couponschneiders, der nicht mehr aktiv in die Gestaltung der Welt eingreift, sondern sich nur noch an ihrer Aufteilung zu schaffen macht. Es ist die Theorie einer erneuten Individualisierung, in der Termini wie aktive Gestaltung und Verantwortung keine Bedeutung mehr haben. Prognostisch gesehen wird es interessant werden, wenn es um die Ereignisse geht, die dieser teleologischen Stimmung, die die Renaissance des Empiriokritizismus ausdrückt, folgen werden. Wird es wieder nur mit einer historischen Tabula rasa gehen? Ist der Krieg die Vorbedingung einer neuen Sinnstiftung nach der individualistischen Übersteigerung des gesellschaftlichen Seins? Die Kritik der positivistischen Weltsicht wäre ein guter Einstieg in die Verneinung der Frage.