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Fundstück: Schlimmer als im alten Rom

Irgendwann, so ist es immer wieder in den Geschichtsbüchern zu finden, irgendwann schlägt Quantität in Qualität um und mit rasender Geschwindigkeit entsteht etwas Neues. Das können neue Reiche sein, die eine neue Ära einläuten, oder es können Untergänge sein, von denen heute Morgen noch niemand geträumt hat. Je nachdem, wohin die Reise geht, sind es entweder die Geschichten von Himmelsstürmern oder die von Höllenfahrern. Und egal, auf welchem Pfad die Geschichte verfolgt wird, es läuft einem heute einfach kalt über den Rücken, auch wenn die Begebenheiten tausend und mehr Jahre zurück liegen. Eigenartigerweise sind es die Erzählungen, die hängen bleiben, die vom rasanten Niedergang berichten. Vielleicht ist es das existenzielle Frösteln, das in der menschlichen Gattung wohnt, vielleicht ist es auch nur die Missgunst an sich, die niemand leugnen kann.

Dass die Römerinnen reines Terpentin tranken, damit ihr Urin nach Veilchen roch und dass bei den Gelagen im Badehaus der Federkiel die Möglichkeit eröffnete, mehr zu essen, als der humane Magen erfasste, ist jeweils als Alleinstellungsmerkmal eine arme Geschichte, als Hinweis auf das, was gerne die spät-römische Dekadenz genannt wird, reicht es aus. Schnell kann assoziiert werden, was so alles geschah, als die Gesellschaft da verloren hatte, was heute so treffend Kohärenz genannt wird. Der sittliche und emotionale Konsens war nicht mehr gegeben, weil die Zentrifugalkräfte von Herrschaft, Macht und strategischer Überdehnung die Lebenswelten der einzelnen Sozialmilieus so weit auseinander getrieben hatten, dass es im wahrsten Sinne des Wortes kein Halten mehr gab. 

Und immer dann, wenn das Räsonieren über die Vergangenheit in vollem Gange ist, schleicht sich die subversive Frage ins Hirn, ob das, was wir heute erleben, nicht auch Symptome aufweist, die die Deutung von Dekadenz durchaus zuließen. Schießen nicht auch hier die Sozialmilieus auseinander wie die Elementarteilchen? Wieviel haben diejenigen, die als Global Player gelten, ihre Leben im Überfluss und ohne die Anwendung von sichtbaren Zahlungsmitteln bestreiten, noch gemein mit denen, die zwar Bildung, aber keine Perspektive haben? Oder denen, die zwar Arbeit, aber kein Auskommen finden? Oder denen, die das alles nicht mehr verstehen? 

Die Dekadenz der Nachkommen derer, die in Rom noch das Terpentin soffen oder ins Bassin kotzten, besteht in einer für sie unmerklichen Tatsache. Sie zerstören den Planeten, obwohl sie sich für ihn engagieren. Obwohl sie alle natürlichen Ressourcen systematisch zerstören, glauben sie in ihrer dekadenten Vorstellungswelt, dieses mit dem Konsum fairer Produkte in ihren privaten Haushalten kompensieren zu können. Wie klug und therapeutisch wäre da doch das Zitat eines Buddy Guy: If you want to fuck nature, nature will fuck you! Aber das nur nebenbei.

Abgesehen von den Global Playern, die mit den Pappgeschossen ihrer alternativen Kaffees ganze Kontinentalküsten verseuchen, wie äußert sich die Dekadenz im ganzen Gemeinwesen? Auch nicht so spektakulär wie in Rom. Denn Dekadenz hin oder her, Rom war auch im Untergang noch eine heroische Gesellschaft. Nein, so unspektakulär die Dekadenz der Reichen in Form einer Bewusstseinsspaltung, so ist der Rest der Gesellschaft geprägt durch die mangelnde Fähigkeit, das Ganze zu sehen. Die Individualisierung frisst ihre Kinder. In Zeiten, in denen die Bestellung eines Allerweltsgerichtes in einem Allerweltslokal viel wertvolle Lebenszeit kostet, weil ein Standard nicht mehr durchsetzbar ist, in dieser Zeit ist die Diffusion des Gemeinwesens die eigentliche Logik, die noch greift. Hand aufs Herz: Es ist viel schlimmer als im alten Rom!

01.07.2016

Die wachsenden Ängste des R.

Die alten Chefs, in den patriarchalisch organisierten Fabriken, die nach dem Morgenritt in Stiefeln und mit der Reitgerte unter dem Arm die Arbeit inspizierten, pflegten, wenn sich Arbeiter am Ende des Monats über das beschwerten, was sie in der Lohntüte vorfanden, mit dem markigen Spruch zu antworten: „Am Lohntag zeigt sich, wer gebummelt hat!“ Aus heutiger Sicht wirkt das arrogant und zynisch, was es auch war, aber es war das Abbild einer Gesellschaft, die noch nicht im Sinne der Organisation unterschiedlicher Interessengruppen formiert war. je höher der gewerkschaftliche  Organisationsgrad wurde, desto weniger Reitpeitschen waren zu sehen und zynische Sprüche zu hören. Die Zivilisation fand Einzug in den Dialog unterschiedlicher Interessen, was ohne robuste Auseinandersetzungen nicht so gekommen wäre.

Gewerkschaften und Parteien bildeten die Organisationsformen, die über Jahrzehnte den Takt der Industriegesellschaften prägten, bevor ein Erosionsprozess einsetzte, der auf verschiedene Faktoren zurückzuführen war. Einer davon war die Korrumpierung der Organisationen des Widerstands durch die Teilhabe an Macht und, in geringfügigerem Maße, an Geld. Ein anderer Grund war der durch den Massenkonsum und die Unterhaltungsindustrie beförderten Konsumismus, der zu Lähmungserscheinungen führte. Entscheidend waren die technologischen Revolutionen, die das wissende, beherrschende und befähigte Subjekt in der Produktion numerisch in immer geringerem Ausmaß erforderlich machten. Und zuletzt wurde die Sozialisation derer, die das Wort im Kampf gegen die Macht des Besitzes führen sollten, immer weniger vom Schicksal derer, die sie vertreten sollten geprägt, sondern durch Bildungsinstitutionen und die Abkapselung in Peer Groups. 

In der Individualisierung und Subjektivierung hat der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten Quantensprünge vollzogen. Um das als gut oder schlecht zu beurteilen ist, dazu hatten vor allem diejenigen, für die es schlecht bis miserabel wurde, keine Zeit, denn sie mussten sich in immer prekärer werdende Erwerbsverhältnisse begeben. Und diejenigen, die von der basalen Existenzvorsorge befreit sind, hatten keinen Anlass, das für sie gute Leben zu hinterfragen.

Dass zur gleichen Zeit, in der der anarchisch sich über den Globus ausbreitende Finanz- und Turbokapitalismus ganz antik eine Krise nach der anderen produziert hat, dass er nach wie vor die Grundlagen dessen systematisch zerstört, was sein momentan Lukratives ausmacht, dass er vor Kriegen um Rohstoffe und Einflusssphären nicht halt macht und sich wie eh und je als anarchisches, blutsaufendes Monster auf diesem Planeten bewegt, wagen diejenigen, die es wissen, kaum noch auszusprechen. Denn hinter ihnen stehen keine starken Organisationen mehr und vor ihnen liegt eine mentale Inquisition, wie sie seit dem grausigen Torquemada nicht mehr präsent war.

Daher ist es zu erklären, dass eine momentan durch die Rat- wie Belanglosigkeit hochgespülte politische Klasse sich benehmen kann, wie der eingangs geschilderte Fabrikherr zur Neige der feudalen Epoche. Sie weisen die Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidungen von sich, sie neigen dazu, die Verantwortung immer auf diejenigen zu schieben, die am wenigsten damit zu tun haben und die Dreistigkeit ihrer Ansichten und Vorschläge bemerken nur noch die, die auf der anderen Seite stehen. Ja, es gibt sie, immer mehr, die im Schattenreich der Gesellschaft leben und sich nicht sicher sind, ob das, was sie hören, auch tatsächlich gesagt wurde. 

Und, als stünde doch am Rande des Geschehens ein großer Regisseur von Format, der an einem Film arbeitet, der alles Vergangene sprengen wird, kommen mitten im realen Leben Sequenzen vor, die eben aus diesem imaginären Drehbuch stammen könnten.

So war vor einigen Tagen, beim Vorbeilaufen an einem Stehcafé eben dieser Satz, ergänzt um eine Adresse, tatsächlich zu hören: „Robert, denk daran, am Lohntag wird sich zeigen, wer gebummelt hat!“ Und es folgte schallendes Gelächter. Anscheinend wussten alle, wer gemeint war.

Das größte Roll-Back seit Beginn der Moderne

Es wird viel geklagt zur Zeit. Warum? Weil die vermeintlich gute, alte Zeit endgültig der Vergangenheit angehört. Doch wir wären nicht das, was wir sind, wenn wir uns nicht kritisch mit den Erscheinungen der Vergangenheit auseinandergesetzt hätten. Alles, was uns in diesen Zeiten ermächtigte, um Veränderungen herbeizuführen, nämlich die Fähigkeit, zu identifizieren, was als eine gemeinsame Basis betrachtet werden konnte, um sich auf den Weg zu neuen Ufern zu machen, hat sich in Luft aufgelöst. Gemeinsamkeiten? Fehlanzeige! Die Individualisierung, ihrerseits eine Konsequenz von Aufklärung und Französischer Revolution, hat ihr vermeintlich letztes Stadium erreicht. Nur das große Kollektive, das Staaten wie Gemeinwohl definierte, ist aus dem Anliegen gestrichen und einer Varianz von Mikro-Identitäten gewichen, die das Denken bestimmen. 

Ob es in diesem Prozess das gibt, was man Schuldige nennen könnte, ist weder genau zu identifizieren noch wird es weiterführen. Denn, wie die Klugen stets bemerken, es ist, wie es ist. Das Lamento über den Verlust bringt nichts, wenn das Bedürfnis, sich aus der mentalen Parzelle wieder heraus zu bewegen, nicht vorhanden ist. Wer, was unter der Chiffre Home Office verstanden wird, und das, jenseits der neuen Techniken, die es ermöglichen, nichts anderes ist als die Heimarbeit aus vor-industriellen Zeiten, als einen Fortschritt feiert, der oder die hat keine Vorstellung mehr davon, was kollektive Erfahrungsprozesse bedeuten.

Was den Prozess unaufhaltsam macht, ist der durch Aufklärung wie Industrialisierung entstandene feste Glaube an die Verwobenheit von technischer Innovation und gesellschaftlich sozialem Fortschritt. Das, was unter dem Namen Digitalisierung geschieht, ist technisch mit das Revolutionärste, was die menschliche Zivilisation hervorgebracht hat. In Bezug auf die in der Aufklärung propagierten Grundsätze ist es der vehementeste Rückschritt im sozialen Zusammenleben. Dieser Widerspruch muss im technokratischen Zeitalter erst einmal verkraftet werden.

Dieser Entwicklung den Spiegel vorzuhalten handelt allen, die sich dafür entscheiden, zunächst einmal den Vorwurf ein, zu den Gestrigen zu gehören. Wer sich der Technik widersetzt, der versprüht die Aura des früh-industriellen Maschinenstürmers. Dass er dann wie im absurden Theater, einem Modell der Heimarbeit gegenübersteht, tut für alle, die sich mit Geschichte grundsätzlich nicht beschäftigen, nichts zur Sache. Denn mental sind viele Zeitgenossen bereits schon auf dem psycho-sozialen Bewusstseinsstand dieser längst vergangenen Zeiten angelangt. Denn trotz aller Kommunikationstools, die sie virtuos beherrschen, schlummern in ihnen längst die Geister de Vergangenheit. 

Die Probe aufs Exempel liefert ein Spaziergang durch jene urbanen Viertel, in denen die euphorischen Heimarbeiter leben. Es ist ein Flanieren durch ein Sammelsurium nostalgischer Lebensattitüden. Da wimmelt es von Manufakturen, da werden Kuchen nach Omas Rezepten gebacken und offeriert, da fahren Räder wie zu Zeiten vor der Motorisierung. Ein Verweis auf die Zukunft sucht man vergebens. Was sich einstellt, zumindest für jene, die die gewaltigen, oft brutalen Umbrüche in den Lebenswelten der letzten Jahrzehnte haben erleben dürfen, ist ein Déjà-vu, ja, entsetzliche Langeweile. Sind das, der Gedanke drängt sich auf, nicht genau die Verhältnisse, aus denen viele herauswollten, weil sie vereinzeln, isolieren, bedrängen und Enge erzeugen? Ist das nicht eine Form der Romantik, die nichts, aber auch gar nichts Protestatives mehr in sich trägt? 

Fortschritt, Fortschritt bedeutet nicht, fortgeschritten sein, sondern fortzuschreiten. Insofern ist die Atomisierung der Gesellschaft, wie wir sie momentan erleben können, das größte Roll-Back seit Beginn der Moderne. Unter technisch exzellenten Voraussetzungen versteht sich.