Wir alle kennen die hier weit verbreitete Klage über die Verlogenheit unserer Tage. Was die hiesige Polit-Provinz-Bühne anbetrifft, so trifft das sicher zu. In Bezug auf das Stadium des Gesellschaftssystems, in dem es sich befindet, kann das hingegen nicht behauptet werden. Die USA, das die Geschicke der Bundesrepublik seit 1945 maßgeblich mitbestimmende, wenn nicht gar ordinierende Imperium, war da nie so heuchlerisch. Lange Zeit fanden immer wieder die direkten Protagonisten der entsprechenden Wirtschaftslobbys direkt in politische Funktionen und dort stieß das nie auf sonderlich große Empörung. Nach einer relativ langen Periode, in der immer wieder Manager aus dem Bankensektor politische Ämter erhielten, sind es heute Vertreter aus dem militärisch-industriellen Komplex, aus Kapitalfonds, aktuell aus der Bauindustrie und dem Bereich IT. Sieht man sich die amerikanische Verhandlungsdelegation an, die einen Frieden in der Ukraine bewerkstelligen will, um danach zügig zur wirtschaftlichen Nutzung zu kommen und liest man dann den Namen des CEOs von Black Rock, dann weiß man, was die Uhr geschlagen hat. Imperialismus ohne Schminke.
Lenin schrieb zu seiner Zeit eine Abhandlung mit dem Titel „Der Imperialismus als höchstens Stadium des Kapitalismus“. Darin befasste er sich vor allem mit den zunehmend die ganze Gesellschaft umfassenden Wirtschaftsformen, die im Gegensatz zum privaten Eigentum standen. Dieser Zustand war zu seiner Zeit in Ländern wie Deutschland, England und Frankreich fortgeschritten, allerdings nicht in Russland. Dennoch nutzte er die Erkenntnis, um seine Anhängerschaft davon zu überzeugen, dass die Zeit reif sei für die Expropriation der Expropriateure. Revolutionstaktisch war ihm das schließlich auch gelungen. Die These sei allerdings erlaubt, dass alles, was in dieser Schrift stand und aus ihr folgte, gänzlich anders verlaufen wäre, hätten die damaligen Zustände die Form gehabt, über die sie heute verfügen. Die Eigentumsverhältnisse unserer Tage sind das kurioseste, was Kapitalismus und Imperialismus je hervorgebracht haben. Marxens häufig kolportierter Satz, dass etwas mit einer Gesellschaft, die ungeheure Dimensionen von Reichtum schafft, aber nicht in der Lage sei, die Armut zu verringern, nicht stimmen könne, war nie zutreffender als heute.
Es ist kaum zu ertragen, mit welcher Naivität und historischen Unterbelichtetheit, oder eben auch Unverfrorenheit, eines sich im imperialistischen Vollrausch befindlichen Gesellschaftssystems von den monopolisierten Meinungsmaschinen Narrative geschaffen werden, die alles Mögliche erklären, die Feindbilder jenseits der tatsächlichen Verantwortung aufmalen, die die Menschen emotional für den nächsten Raubzug zu präparieren suchen, nur nicht das zu transportieren, was sichtbar im Scheinwerfer der Evidenz liegt.
Wer sich da noch blenden lässt und tatsächlich von einer Krise der Demokratie faselt, die durch böse Geister, nur nicht die, die am Werke sind, zu verantworten ist, hat entweder nie die Fähigkeit einer kritischen Analyse besessen, oder sich durch die seichte Brise eines lauen Konsumismus korrumpieren lassen oder ist, was leider bei vielen unserer früher einmal als intellektuell Bezeichneten zutrifft, einer mentalen Impotenz erlegen.
Aber auch das ist nichts Neues. Ist das Stadium der Dekadenz einmal erreicht, verschwinden zahlreiche Figuren quasi über Nacht schon in der Biotonne, bevor es zum Showdown mit einer neuen Epoche kommt. Alles wie gehabt. Imperialismus ohne Schminke. Nur an den Schlauesten der Schlauen geht dieses Phänomen spurlos vorbei. Was allerdings nichts am Ergebnis ändern wird.
