Honoré de Balzac ist, was das geplante Lebenswerk eines Schriftstellers anbetrifft, bis heute ein historischer Riese. Dieser Mann hatte vor, die Gesellschaft, in der er lebte, in allen Ecken mit literarischen Werken auszuleuchten. Geplant hatte er 137 Romane, vollendet hat er davon 91. Das, was er beobachtet hatte, und das, was er in seiner Fläche wie Intensität einem großen Publikum zukommen lassen wollte, war nichts anderes als das gesamte Panorama der bürgerlichen Gesellschaft, welches sich vor ihm ausbreitete. Balzac selbst wurde gerade einmal 51 Jahre alt und er lebte zwischen 1799 und 1850, sprich, er selbst wirkte im ersten halben Jahrhundert dieser neuen Gesellschaftsordnung, die in Frankreich als Blaupause existierte. Alles, was sie mitschleppte aus den Zeiten der Monarchie und des Feudalismus, und alles, was sie an neuen Möglichkeiten bot, hat dieser immer sich in Geldnöten befindende, von Koffein gepuschte wunderbare Erzähler auf das von Kerzenschein beleuchtete Papier gebracht und in mit Kaffe bekleckerten Gewand hastend in die Redaktionen getragen. Er nannte alles, was seiner Feder entsprang schlicht die „Menschliche Komödie“.
Was er damit einfing, war nichts anderes als den Übergang einer Gesellschaft von einem System der politischen Organisation zu einem neuen, anderen. Mit dem gesamten Gepäck, welches die alten Zeiten den Menschen auf die Schultern geladen hatten, den Erwartungen und Illusionen, die sie der neuen Zeit entgegenbrachten und mit den Desillusionierungen, die mit jedem Neuanfang daherkommen. Er beschrieb die Gewinner, wie sie sich rauschhaft an das Formen des Neuen machten, ohne darauf zu verzichten, auch ihre Unzulänglichkeiten zu sehen. Und das brüchige Schicksal der Verlierer, die feststellen mussten, dass ihre Gewissheiten der Geschichte angehörten und nicht mehr gefragt waren, ohne das Auge zu verschließen vor den Tugenden, die mit ihnen dahingingen und für immer verloren waren.
Was Balzac wusste, und da war er seiner Zeit voraus, war, dass es eben nie so einfach und schablonenartig zugeht wie von denen behauptet, die für das Neue werben. Nicht umsonst trägt wohl das stärkste Werk des Gesamtzyklus den Titel „Verlorene Illusionen“, und nicht umsonst nannte er das gesamte Oeuvre die „Menschliche Komödie.“ Damit rief er eine Perspektive auf den Plan, die im Frankreich seiner Zeit bitter nötig war. Nach dem Blutrausch von revolutionären wie restaurativen Perioden, bei denen die Protagonisten beider Lager nahezu alle mit ihren Köpfen in den Weidenkörben unterhalb der Guillotine gelandet waren, war es an der Zeit, die Unzulänglichkeiten menschlichen Handelns als etwas darzustellen, das oberhalb einzelner historischer Epochen steht.
Die Fähigkeit, innerhalb des neuen Systems als Faktor existieren zu müssen, als Produzent einer Ware, auch wenn sie Literatur heißt, schnell und nach Markterfordernissen produzieren zu müssen, dabei die Gesetze der menschlichen Fehlbarkeit zum Thema zu machen und dennoch die Distanz zu besitzen, um mit einem versöhnlichen und lachenden Auge auf das Auf und Ab der menschlichen Existenz zu blicken, das ist eine Größe, die seit Balzac nur wenigen gelungen ist. Zola mit seinem Rougon-Macquart-Zyklus folgte ein wenig später. Literarisch nahm das nach ihnen kaum noch jemand in Anspruch. Und dann, nach den vielen Blüten und Krisen des Kapitalismus, tauchten in der Moderne solche Serien wie die Sopranos auf, die an diese Tradition anknüpften. Wollte man eine Zwischenbilanz ziehen, dann sind die Bücher über die menschliche Komödie schon lange verschlossen, aber die Idee lebt weiter.

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