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Ostenmauer – 63. Herbst 1989 – 5. „Einmal durchbrechen wir selbst die dicksten Mauern…“

„Einmal durchbrechen wir selbst die dicksten Mauern…“  Oskar Maria Graf

Die Meldung brannte wie eine Stichflamme durch die Hirne der Berliner. Nach achtundzwanzig langen Jahren, seit dem August 1961, sollte es wieder möglich sein, die tödliche Zerrissenheit der vitalsten europäischen Metropole ohne große Probleme überwinden zu können. Die Regierung der DDR verfügte die Reisefreiheit ohne Visumszwang. Was in ganz Deutschland wohl begrüßt wurde, entbrannte in Berlin zum Urschrei. Die geteilte, geschundene und oft verwünschte Stadt, das westliche Babylon der Moderne, das östliche Mekka des längst vermoderten Preussens, die lebendigste und krasseste aller deutschen Städte, feierte ein exzentrisches Wiedersehen mit sich selbst.

Hunderttausende migrierten von Berlin/Ost nach Berlin/West und umgekehrt. Auf dem gesichtslosen aber geschichtsträchtigen Alexanderplatz wurde Tango getanzt, der Kurfürstendamm erlebte Stunden wie die New Yorker Fifth Avenue in der Nacht zum 8. Mai 1945. Die Menschen fielen sich in die Arme, das Herz Berlins war seiner Rhythmusstörungen ledig, im gleichen Takt sprang das Leben auf und ab.

Trotz der Freude, der Begeisterung, der Träume und der Erleichterung kam es nicht zum bewusstlosen Exzess, es wurde kein dammloses Besäufnis, es gab keine Gewalt. Schnell wurde klar, dass sich das politische Bewusstsein vor allem der Ostberliner auf einem für deutsche Verhältnisse hohen Niveau bewegte. Die politischen Formationen, die für die beschleunigte Bewegung in der als so rigide erachteten DDR verantwortlich zeichnen, haben bis dato erfolgreich verhindert, dass die Despotie Ost gegen den Fleischwolf West kritiklos ausgewechselt wurde. Die Perspektive wird zum Schrecken der Apologeten des westlichen Verwertungssystems nicht in Richtung Restauration des Kapitalismus entwickelt, sondern auf eine Innovation der sozialistischen Gesellschaft abgestimmt.

Das Fest, welches in der letzten Nacht in Berlin gefeiert wurde, war kein revanchistisches Bacchanal. Die Enkel Rosa Luxemburgs reichten sich die Hand. Was sie dabei wem schworen, ist völlig egal. Jedenfalls nicht den falschen. Berlin darf feiern. Zum Kämpfen bleibt noch Zeit genug. Salut!

Einmal durchbrechen wir selbst die dicksten Mauern
Einmal durchbrechen wir selbst die dicksten Mauern …

Ostenmauer – 62. Herbst 1989 – 4. Der Osten

4. Der Osten

Die Erosion des von Stalin geschaffenen monolithischen Blockes hat einiges in Bewegung gebracht. Die Sowjetunion befindet sich in einer mehr als dynamischen Phase ihrer Entwicklung. Die Statik der russischen Hegemonie gegenüber den Völkern der Sowjetunion ist ins Wanken geraten. Die durch den Stalinismus entmachteten Räte sind dabei, sich zu reorganisieren. Die Frage nach einer Demokratisierung der Direktionsrechte steht auf dem Programm. Mehrheiten sollen wieder durch Debatten und freie Wahlen zustande kommen. Der Obskurantismus einer einzigartig zynischen Geschichtsschreibung steht öffentlich am Pranger. Zum ersten Mal werden die ökologischen Verbrechen einer gigantomanischen Technokratie thematisiert. Die intelligenteste Gesellschaftskritik der bolschewistischen Revolution erhält durch die Rehabilitation Bucharins eine neue Chance. Dem imperialen Expansionsstreben ist vorerst Einhalt geboten.

Ob diese Entwicklung in Richtung sozialer Befreiung und Selbstbestimmung geht, ist noch lange nicht entschieden. Noch lauert die Kaste der drohnenhaften Verwaltungsbeamten auf den letalen Schlag gegen die Innovationsbewegung. Die Politik Gorbatschows ist sicher auch ein vehementer Versuch, zu retten, was überhaupt noch zu retten ist. Aber allein die Tatsache der Ermutigung – ob gewollt oder ungewollt – zur Revolte ist ein positiv zu bewertendes Faktum.

Es muss in Moskau als äußerst schmerzhaft empfunden werden, aber es ist die notwendige Konsequenz der historischen Beziehungen zwischen der UdSSR und der DDR, dass letztere sich als Zauberlehrling der Repression entpuppt und die entfesselten Kräfte der Zerstörung kaum noch gebändigt werden können. Auf die SED-Führung braucht niemand mehr zu hoffen. Ihrem momentanen Angebot an die Opposition, einen konstruktiven Dialog zu führen, haftet zu sehr der Geruch opportunistischen Machtstrebens an. Auf die abgetakelte Vernunft, die westliche Medien immer wieder einfordern, braucht niemand mehr zu hoffen. Schon gar nicht bei der SED. Wie sooft in Situationen rascher emanzipativer Veränderung, lastet auf der spontanen Bewegung mehr Verantwortung, als diese aufgrund ihrer Erfahrung einlösen kann. Wenn die so genannte westdeutsche Linke, die sich immer mehr als Konglomerat misanthropischer Apathie entpuppt, nichts anderes zustande bringt, als in der berühmten ersten Reihe zu sitzen und dümmlich den Dingen hinterher zu glotzen, wäre es doch konsequent, sich dafür einzusetzen, mit Erich in die gleiche Familiengruft eingelassen zu werden.

Herbst 1989 – 4. Der Osten

Ostenmauer – 61. Herbst 1989 – 3. Der Westen

3. Der Westen

An den Bonner Rheinauen und in den Chefetagen der Industrie wird kräftig spekuliert. Die Regierungsparteien versuchen, die Auswanderungswelle aus der DDR für ihre Systempropaganda zu nutzen, in der Industrie kalkulieren nicht wenige mit einer Art fünfter Kolonne im Arbeitnehmerlager. Des Weiteren wird versucht, mehrere Klassifizierungen von in die Bundesrepublik Einreisenden zu schaffen. Divide et impera! 

Trotz der vollmundigen Erklärungen aus der Kohl GmbH und Co. KG. sticht die Unsicherheit ins Auge, mit der die West-Sozialisation der ehemaligen DDR-Bewohner beobachtet wird. Scharfe Propagandisten der vor allem von der FDP angestrebten Revitalisierung des Manchester-Kapitalismus finden sich unter den Neuankömmlingen nur selten. Dass es in der Bundesrepublik über die Erscheinungen von Freude und Eierkuchen hinaus auch noch Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit, Menschenhandel etc. gibt, wird sehr schnell registriert. Ob das perfide Kalkül aufgeht, aus den neuen Bundesrepublikanern Sturmtrupps gegen die Gewerkschaften zu formieren, hängt unter anderem davon ab, wie die organisierte Arbeitnehmerschaft ihnen gegenüber operiert. Politische Offensive ist gefragt.

Im internationalen politischen Dominospielchen sieht die Sache für die imperialen Hardliner gar nicht so rosig aus. Hinter dem augenblicklichen Propagandabonus verbirgt sich nämlich die Gefahr, dass eine starke Protestbewegung in der DDR sich mit ihren Forderungen, die bis dato hier kaum jemand kennt, im Westen Gehör verschafft. Dann kommt nämlich heraus, dass die ökonomischen Verhältnisse der DDR durch politische Demokratisierung effektiviert, die Grundrechte des Individuums verbrieft und das Koalitionsrecht garantiert werden sollen und es keinesfalls um die Fusion ganz Deutschlands unter der Ägide des Kapitalismus geht. Und es bestünde vielleicht die begründete Gefahr, dass – um einmal im Bonner Jargon zu reden – eine solche Entwicklung in der DDR als ein Faszinosum in den Westen strahlte. Außerdem verlören die militaristischen Planspiele der Haardthöhe noch mehr an Attraktivität als es schon der Fall ist. Es brächen schlechte Zeiten für großdeutsche Träume an.

In dieser Situation, die ja global gesehen die Möglichkeit immenser Veränderungen im Ost-West-Gefüge denkbar macht, zeigt sich die Phantasie- und Konzeptionslosigkeit im westlichen Lager. Und darin besteht die Affinität zur welken Intellektualität der SED-Führung. 

Herbst 1989 – 3. Der Westen