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Ostenmauer – 66. Herbst 1989 – 8. Die Zeit drängt

8. Die Zeit drängt

Die Maske fällt. Der gute Onkel aus dem Westen beginnt sein wahres Gesicht zu zeigen. Jetzt, wo es darum ginge, die laute Propaganda durch Taten zu verifizieren, wird deutlich, dass Hilfsangebote an die DDR seitens der BRD nur in Form von Junktims dargeboten werden. Wenn Kredite gegeben werden sollen, dann hat dies und das zu geschehen, natürlich Privatisierung, natürlich Währungsreform nach bestimmten Vorgaben, und es wird sich noch vieles finden, um den Aufkauf der DDR vorzubereiten und sie politisch zu demütigen. Es wird noch festzustellen sein, und zwar sehr viel schneller als von vielen angenommen, dass die Rudimente der ehemaligen SED-Autokratie größere Interessenkongruenzen mit dem BRD-Kapital aufweisen als angenommen, die Volksbewegung der DDR den Plänen des westlichen Finanzkapitals hingegen diametral entgegensteht.

Das ebenso in der Agonie liegende , staatsmonopolistische Regime in der Tschechoslowakei versucht, die Totenglocke mit dem Schlagstock zum Schweigen zu bringen. Auf der Demonstration vom 17. November wurden Teilnehmer totgeschlagen, der uniformierte Mob sprang für die abgehalfterten Bürokraten in die Bresche. Sie werden die Macht des Volkes nicht mehr bändigen, jeder Schlag auf das Haupt eines Demonstranten wird nur die Wucht der Gegenbewegung erhöhen. 

Die Berichterstattung der BRD-Medien über die Ereignisse des 17. November zu Prag wäre sicherlich nicht schlecht, wenn da nicht noch ein die Funktion derselben enthüllendes Ereignis im eigenen Land wäre. In derselben Nacht, in der in Prag mehrere Menschen wegen ihres Freiheitswillens zu Tode geprügelt wurden, gab es in Göttingen ein ähnliches Opfer. Eine vierundzwanzigjährige Studentin, die in Auseinandersetzungen mit seit langer Zeit in dieser Region ihr Unwesen treibenden Faschisten verwickelt war, wurde von herbeieilenden Polizisten eingekesselt. Ihr blieb nur eine Fluchtschneise, nämlich der Weg über eine stark befahrene Straße, auf welcher sie von einem Fahrzeug erfasst wurde und ums Leben kam. Die nach Osten kritische Presse, der Funk und das Fernsehen notierten diesen politischen Skandal, der die Deckung von aufkommendem Faschismus durch staatliche Institutionen wieder einmal deutlich machte, lediglich en passant, als handele es sich um ein entwendetes Fahrrad.

Die Ereignisse in den als osteuropäisch bezeichneten Staaten beginnen für das herrschende Offizierscasino der politischen Macht die Funktion des Sandmännchens einzunehmen. Die Position dieser Gesellschaft wird täglich deutlicher. Es ist an der Zeit, den Weg der DDR-Rebellen durch eine Aktivierung der hiesigen Attacken auf die Politik der Bundesregierung zu eskortieren. Gelingt dies nicht, werden wir hier noch zu büßen haben, dass unsere Brüder und Schwestern im Osten den Mut hatten, aufzustehen und zu kämpfen…

Herbst 1989 – 8. Die Zeit drängt

Ostenmauer – 65. Herbst 1989 – 7. Laboratorium Deutschland

7. Laboratorium Deutschland

Dass es sich beim Menschen um ein soziales Wesen handelt, gilt als anthropo-historisches Axiom. So weit unser kollektives Gedächtnis reicht, war der Mensch als Gattungswesen in sozialen Verbänden assoziiert. Abhängig von Beschaffenheit, Rechtsverhältnissen und dem Niveau der Produktivkräfte, unterlag die soziale Organisation der menschlichen Sozialordnungen einem ständig beschleunigten Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung.

Historisch betrachtet ist es sinnvoll, diese Entwicklung in verschiedene Klassifizierungen zu fassen. Nomadisierende Stämme, sesshafte Agrar- und Jagdgesellschaften, Manufaktur und Handel betreibende Gesellschaftsformationen, imperiale Raubgesellschaften bis zur Herausbildung komplexer Nationalstaaten, die in ihrem Facettenreichtum auch diachron den Platz für historisch unterschiedliche Produktionsweisen bieten. Es ist keine Frage, dass die moderne Nationalstaatlichkeit als historischer Entwicklungsstufe den Globus spätestens seit der Französischen Revolution bis zum heutigen Tag am meisten in Atem gehalten hat. Sie wurde von den Akteuren der sozialrevolutionären Umgestaltung der modernen Massengesellschaften zumindest als günstige Vorbedingung für ihr Unterfangen rezipiert.

Durch ihre geographische Begrenztheit, ethnische Besonderheiten und der daraus zumeist folgenden identischen Sprachsphäre, der dadurch wiederum charakteristischen Produktionsweise, der sozialen Organisationsform und ihrer kreativen Reflexion im künstlerischen, philosophischen und politischen Bereich, bildeten sich historische Formationen, die allgemein als Nationalstaaten und/oder als Kulturnationen bezeichnet werden. 

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht…“ Meinte Heine mit dieser Bemerkung das reaktionäre, despotische, imperialistische Deutschland, dessen Triebe noch bis in unsere Zeit hineinreichen, so muss die nächtliche Unruhe in Anbetracht der Ereignisse in der DDR neu, quasi als produktive Unruhe, gedeutet werden. Natürlich können vierzig kurze Jahre die Sozialisation der deutschen Nation nicht annullieren. Natürlich gibt es immer noch die deutsche Sprache, die Kultur, die Philosophie. Aber, und dies ist entscheidend, es gibt zwei souveräne deutsche Staaten und es existieren in beiden Majoritäten, die eine Wiedervereinigung ad hoc ablehnen.

Die Brisanz der deutschen Entwicklung hat ihre Wurzeln in dem Auflösungsprozess zwei verschiedener teil-nationalstaatlicher Systeme, deren Besonderheit allerdings nur darin besteht, dass beide in der Tradition systemaren Hegemonialstrebens stehen. Durch die Internationalisierung der Ökonomie muss weltweit zumindest eine Aufweichung der Nationalstaaten konstatiert werden. Das Postulat nach einem deutschen Einheitsstaat zu diesem Zeitpunkt hingegen ist deplatzierte Romantik in einem irreversiblen Prozess. 

Die historische Chance, die sich in Deutschland zur Zeit wie in einem Experimental-Laboratorium bietet, ist der Aufbau einer konkordanten Demokratie, in denen Besitz- und Rechtsverhältnisse zur Debatte stehen, deren Lösung aber nicht durch gewalttätige Intervention herbeigeführt wird. Es kann und muss danach gesucht werden, wie die Internationalisierung der Gesellschaft, respektive die Auflösung antiquierter Nationalstaatlichkeit begangen und wie die Liquidation staatlicher Organisationsgewalt betrieben werden kann. Die Stunde frei assoziierter Individuen könnte zu schlagen beginnen…

Herbst 1989 – 7. Laboratorium Deutschland

Ostenmauer – 64. Herbst 1989. 6. Aufpassen!

6. Aufpassen!

Die grenzenlose Freude der Deutschen über die Öffnung der nationalen Binnengrenze hat den Verstand nicht außer Kraft gesetzt. Auf den vielen Kundgebungen in Berlin erhielten die Hegemonialpropagandisten gehörige Absagen. Sprüche wie der Sozialismus sei tot, Deutschland sei stolz und die Freiheit habe gesiegt, gingen in gellenden Pfeifkonzerten unter. Die Vertreter des militanten Finanzkapitals träumen von der Exploitation billiger, aber hochqualifizierter Arbeitskräfte, vom Kauf der DDR, von der strategischen Verbesserung imperialistischer Weltmarktpläne. Diese Phantasien sind nicht unterstellt, sie sind täglich im Originalton zu hören. Es ist nicht einmal mehr ein Geflüster, das durch die Etagen der bourgeoisen Nimmersatts geht, es hat sich zu lautem Gebrüll entwickelt. Obwohl die finanzkapitalistische Kamarilla auf den Veranstaltungen in Berlin isoliert blieb, darf sich keine für die tatsächlich historische Chance tödliche Nonchalance Raum verschaffen.

Die Bewegung von unten, wie das, was sich in der DDR als Opposition zur SED-Oligarchie entwickelt hat, zur Zeit noch am besten bezeichnet werden kann, formuliert unisono – mit Ausnahme der liberal-demokratischen Kompradoren – die Problematik folgendermaßen:

Die Frage der Wiedervereinigung wird von westdeutschen Interessengruppen lanciert. Sie betrifft nicht unsere momentanen Probleme und steht nicht auf der Tagesordnung. Sie würde unter den heutigen Voraussetzungen die Unterjochung bzw. die Liquidierung der DDR mit allen Implikationen bedeuten.

Durch unkritische Kreditierungen von Joint-Venture-Projekten und der gleichzeitigen Wiedereinführung von Privateigentum an Produktionsmitteln würde eine Art neuer ursprünglicher Akkumulation forciert, die zur Folge hätte, dass die SED-Nomenklatura, die noch über die Direktionsrechte verfügt, unter neuen, nicht erstrebenswerten Rechtsverhältnissen ihr Unwesen treibt.

Positiv formuliert, muss die Demokratie durch Neuwahlen gestärkt werden. Abwählbarkeit von Funktionsträgern muss als Kontrollinstrument des Volkes als Selbstverständlichkeit etabliert werden.

Die Solidarität der Westdeutschen muss darin bestehen, a) die demokratische Bewegung der DDR praktisch-instrumentell zu unterstützen und b) dafür zu sorgen, dass Einmischungen seitens der reaktionären Schwarz-Rot-Gold-Fraktion unterbleiben. Dies kann zum Beispiel bedeuten, in der Bundesrepublik dafür einzutreten, bedingungslose Finanzierungsmodelle zu erstellen, deren Realisierung durch Cutten des Militärhaushaltes gewährleistet wird. Derartige Nagelproben werden sehr schnell die Spreu vom Weizen trennen und demonstrieren, wem die Sichel um den Hals zu legen ist, um ihn vor eigenen Untaten zu bewahren. 

Herbst 1989 – 6. Aufpassen!