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Über die mentale Krise individualistisch ausgerichteter Gesellschaften

Die mentale Krise der extrem individualistisch ausgerichteten Gesellschaften ist offensichtlich. Auf der Wunsch- wie auf der Angebotsseite ist das Bild skurril: Menschen, die nicht ihr Bedürfnis 1:1 behandelt sehen, tendieren dazu, sich komplett zu verweigern. Und die Bestellung eines Produktes mit den entsprechenden individuellen Spezifikationen artet zu regelrechten Biointerviews aus. Das Konsumverhalten führt, zumindest in bestimmten Segmenten, dazu, dass der Stoff für eine gesellschaftliche Diskussion ausgeht. Worüber sich noch unterhalten, wenn jeder sich in seiner sublimierten Blase befindet? Und, wo keine Gemeinschaft, da ist auch kein Konsens mehr darüber, ob es sich lohnt, sich für das Gemeinsame einzusetzen. Ja, der Verlust der Gemeinschaft und der Psychoritt in den Individualismus hat zum Massenphänomen des Post-Heroismus geführt. 

Henry Kissinger pflegte häufig sein Erlebnis mit dem damaligen Außenminister der Volksrepublik China, Zhou Enlai, zu erzählen. Bei ihrem ersten Treffen fragte Kissinger Zhou, von dem er selbstverständlich wusste, dass er sich zu Studienzwecken in Frankreich, England, Belgien und Deutschland aufgehalten hatte und sich in der neueren europäischen Geschichte auskannte, was er von dem Projekt der bürgerlichen Revolution und seinem Konzept des Individualismus halte. Zhou blickte Kissinger irritiert an und antwortete, das könne man doch beim besten Willen nicht sagen, die Französische Revolution sei doch gerade einmal 200 Jahre alt. 

Das Ganze spielte sich vor ziemlich genau 50 Jahren ab und zeigt, wie sehr die Zeiten sich wandeln. Die Frage wäre, hätten wir die Gelegenheit gehabt, vor 50 Jahren wesentlich wohlwollender in Bezug auf das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft beantwortet worden als heute. Dazwischen liegen unter anderem dreißig Jahre des Wirtschaftsliberalismus, der den Individualismus wie eine Turbine beschleunigt und die auf Grundlage der individuellen Freiheiten gegründeten Gesellschaften in ein mentales Prekariat geführt hat. 

Trotz aller Polarisierung, vor allem gegenüber offen autoritären oder oder auch kulturell kollektivistischen Gesellschaften, werden vor allem die imperialistischen Staaten, die aus einem wohl verstandenen Individualismus eine Raubtierphilosophie geformt haben, ihrerseits, betrachtet man ihre innere Befindlichkeit, zunehmend autoritärer und totalitärer. Der Blick von außen, aus der Ferne, führt zu dem Urteil, dass das Projekt der bürgerlichen Gesellschaft, welches seine Prinzipien in der Französischen Revolution in Stein gemeißelt hat, sich in der heißen Phase des Scheiterns befindet. Unveräußerliche Rechte werden nach Bedarf interpretiert oder sogar annulliert und der Staat argumentiert auf seinem Weg in der Autoritarismus diese Notwendigkeit mit der Verteidigung der Demokratie. Übrigens der größte Irrtum in der Verteidigung demokratischer Rechte, auf den bereits Benjamin Franklin hingewiesen hatte, als er noch in Paris weilte und im noch monarchistischen Frankreich für Waffenlieferungen für den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Englische Krone warb.

So fliegt der Kot historischer Vergehen gegen die Prinzipien der Freiheit und die unverbrüchlichen Rechte, die mit ihr einhergehen, bis in die Gegenwart. Und wir, als Leidtragende wie Zeugen, dürfen uns nicht dem Irrglauben hingeben, dass die Prinzipien, um die es dabei geht, die falschen sind. Eine Flucht in die Autokratie ist mit Abstand der dümmste Schluss, der aus der Krise des beschleunigten und hoch gekoksten Individualismus gezogen werden kann, auch wenn die vermeintlichen Verfechter der Demokratie sich bereits auf diesem Weg befinden. Da einen klaren Kopf behalten, fällt in der Tat schwer. Die Freiheit des Individuums ist eine Voraussetzung einer freien Gesellschaft. Die bleibt aber nur solange frei, sie die Einsicht in das unabdingbar Gemeinsame bewahrt werden kann. 

Krieg, Subjekt und Objekt

Wer immer noch in dem Glauben ist, bei dem Krieg in der Ukraine ginge es um den Kampf einer jungen, immer noch brüchigen Demokratie gegen einen übel riechenden Dämonen, der sei zu seinem guten Glauben beglückwünscht. Das, was anfangs tatsächlich so aussah, wie die Invasion eines imperialistischen Nachbarn in ein gerade von diesem unabhängig gewordenes Land, entpuppt sich mit Fortschreiten der militärischen Auseinandersetzungen und aus etwas gröberer Distanz als ein Machtspiel, dessen Ende alles andere als eindeutig ist. Bei allen verständlichen Emotionen, die uns täglich durch die von einer Kriegspartei offerierten und dankend angenommenen Bilder entlockt werden, ganz so einfach ist es nicht.

Die Geschichte, die zu der Eskalation führte, die haben andere bereits unzählige Male in beeindruckender Weise erzählt. Sie noch einmal in Gänze zu rekapitulieren würde auch deshalb nichts bringen, weil sie der zur herrschenden Meinung modellierten Sichtweise entgegensteht. Was jedoch eine Betrachtung wert wäre, ist ein Perspektivenwechsel, der ein immer weiter ins Verderben rutschendes Europa aus der scheinbar Regie führenden Position herausholt und es dahin verweist, wohin es momentan tatsächlich gehört: in die Rolle eines Statisten.

Das Brett, auf dem gespielt wird, heißt Europa, die Spieler jedoch sitzen in Moskau und Washington. Im Moment! Aus russischer Sicht, die, wohlgemerkt, immer eine kontinental-imperialistische war, auch und gerade in sowjetischen Zeiten, geht es im die Restauration vergangener Macht- und direkter Einflusssphären. Sie gingen verloren mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Gründung einer ramponierten Russischen Föderation. Die aus dem Einfluss Moskaus entkommenen Staaten gingen mit der Erfahrung, einem despotischen System entkommen zu sein. Diese Erfahrung sitzt immer noch tief und erklärt die nahezu uniforme und aggressive Ablehnung gegenüber allem, was Russisch ist. Dass der Zusammenbruch der Sowjetunion  Millionen von Russinnen und Russen auf plötzlich fremden Territorien hinterließ, ist der eigentliche Sprengstoff. Ihn durch Rechte, Verbindlichkeiten und Verträge zu entsorgen, kann als eines der schwerwiegenden Versäumnisse angesehen werden. Dass der Westen, an den sich die unabhängig gewordenen Staaten wendeten, das Problem nicht erkannte oder erkennen wollte, lag an dessen aus dem vermeintlichen Sieg entsprungenem Triumphalismus.

In Washington hingegen wird das Schachbrett, auf dem gegenwärtig die Figuren stehen, von jeher als eine Partie angesehen, die entscheidend ist zum Erhalt der Weltherrschaft. Da geht es um die Abspaltung Russlands von Europa, besonders von Deutschland. Die Union von mitteleuropäischer Technologie und russischen Rohstoffen ist der Alptraum, den die maritime Weltmacht immer wieder träumt. Nachdem sich das Baltikum in den westlichen Militärkordon eingereiht und damit die Ostsee für Russland endgültig blockiert hatte, kam mit dem gelungenen Putsch in der Ukraine 2014 endlich die Chance, es auch endgültig vom Schwarzen Meer abzuschneiden. Dass mitten durch die Ukraine auch eine kulturelle Grenze verlief, wusste bereits Henry Kissinger, spielte aber bei dem geostrategischen Kalkül keine Rolle. Der jetzt dort geführte Krieg ist ein Tribut an diesen Schachzug, der aus us-amerikanischer Sicht den Vorteil mit sich bringt, sowohl Russland als auch Deutschland erheblich schwächen zu können. Je länger dieser Krieg dauert, desto vorteilhafter die Lage für die Hegemonie-Pläne der USA.

Im Grunde genommen geht es also um das Rangeln zweier imperialistischer Mächte um geopolitisch erforderlichen Einfluss. Was sich an der vorhandenen Aufstellung zeigt, sind die unterschiedlichen Fraktionen in unserem eigenen politischen Spektrum. Ohne auf die Selbstvergessenheit, mit dem ein karrieregeiler Mob die eigenen Interessen opfert und sich einer der imperialistischen Mächte ohne jedes Wenn und Aber verschreibt, besonders eingehen zu wollen: Essenziell wäre die Frage, wie Europa im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen aus der Rolle des Objektes in die eines Subjektes gelangen könnte. Alles andere ist Augenwischerei.   

Weltpolitik: Old Henry im Chatham House

Während sich hierzulande ein in konvulsivischen Exzessen badendes Empörium über Vorgänge echauffiert, die in einer gelebten Demokratie keinen Platz hätten, deuten sich auf der Makro-Ebene des Globus gewaltige Veränderungen an. Nicht, dass es außer für bestimmte Kreise in den USA und ihren transatlantischen Gefolgsleuten neu wäre, dass sich das globale Machtgefüge verschoben hätte. Nicht nur Russland hat sich von der tiefen Depression nach dem Zusammenbruch der einstigen Sowjetunion erholt, sondern auch China ist zu einer profunden Macht in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht mutiert und der schlafende Riese Indien wird noch von sich hören lassen. Dass, analog zum einstigen Abstieg des British Empire, ein Teil der us-amerikanischen Elite davon nichts wissen will, gehört zu den Grundmustern von Geschichte. Freiwillig gibt niemand den ersten Platz im Weltgefüge so einfach auf.

Daraus leitet sich nicht nur die Politik Donald Trumps ab, der den alten Begriff des „America First“ reaktivierte, sondern daran hält auch die neue Biden-Administration fest. Sie will die einstige Suprematie zurückgewinnen und spielt Szenarien durch, die politisch, ökonomisch und militärisch ausgerichtet sind. Was sie nicht beinhalten, ist die Akzeptanz einer längst erfolgten globalen Multipolarität. 

Umso erstaunlicher mutet es an, dass bei einem Webinar des etablierten britischen ThinkTanks Chatham House, seinerseits Nachfolge des bereits 1920 gegründeten Royal Institut of International Affaires, ein Mann auftauchte, der bereits in den Geschichtsbüchern steht. Und nicht als Friedenstaube oder Appeasement-Politiker, sondern als knallharter Vertreter des us-amerikanischen Imperiums. Henry Kissinger meldete sich zu Wort und warnte eindrücklich davor, die entstandene globale Multipolarität zu leugnen und sich in der Illusion zu verirren, die USA könnten den Zustand der alleinigen Hegemonialmacht wiederherstellen. Selbst Zbigniew Brzezinski, seinerseits ehemaliger Präsidentenberater und Autor des Grand Chessboard, in dem die Wertherrschaft noch durch die Eroberung des eurasischen Blocks, sprich Russlands, als möglich erachtet wurde, war kurz vor seinem Tod zu einer ähnlichen Erkenntnis gekommen wie jetzt Henry Kissinger.

Kissinger selbst führte auf besagtem Webinar weiter aus, dass ein Festhalten an der jetzigen Politik auf eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg zustrebe und katastrophale Folgen haben werde. Er riet, eine politische Strategie zu entwickeln, die auf der Akzeptanz der neuen Verhältnisse beruhe und sowohl die Verteidigungsfähigkeit des Westens einschließe als auch die Kooperation mit den anderen mächtigen Playern ermögliche. 

Realismus und Pragmatismus sind, betrachtet man die verheerende, jüngere Geschichte der internationalen Beziehungen, der beste Ratgeber gewesen, um Eskalation und Krieg zu vermeiden. Mangelnde Selbsteinschätzung und Bekehrungsdoktrinen haben jedesmal zur Katastrophe geführt. Insofern sind die Erkenntnisse und Einlassungen des alten Haudegens des US-Imperialismus von großer Bedeutung.

Angesichts der hiesigen Äußerungen zum Weltgeschehen drängt sich der Eindruck auf, als lebe man noch in der Welt des Kalten Krieges. Anders ist auch nicht zu erklären, wie medial um einen derartig lupenreinen Demokraten wie Nawalny gefiebert wird, der, bewegte er sich mit seinen Vorstellungen und seiner Terminologie unter anderem Namen in den bundesrepublikanischen Foren, als absolutes NoGo nach allen Regeln der Kunst verurteilt würde. 

Fast könnte man zu der Auffassung kommen, wir lebten in einer verrückten Zeit. Letztere ist aber nicht verrückt, sondern turbulent. Wer in derartigen Perioden einen kühlen Kopf bewahrt, die tatsächlichen Entwicklungen zur Kenntnis nimmt, seine eigene Bedeutung realistisch einschätzt und sich auf das Neue einstellt, kann mit eine guten Prognose rechnen. Wer schreiend die Vorstellungen der alten Verhältnisse in das neue Zeitalter herüberretten will und seine eigenen Kräfte überschätzt, dem blüht noch so manche Überraschung.