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Auslandsjournalismus: Die Armseligkeit des Ressentiments

Heinrich Heine war nicht nur Lyriker. Neben dem Buch der Lieder, bis heute übrigens immer noch eines der weit verbreitetsten Bücher der Welt, schrieb er Prosatexte, die sich mit vielem befassten, aber zumeist mit Politik und die sie bestimmenden Motive. Das tat er zumeist nicht in direkter Art und Weise, sondern sehr subtil. Wer sich heute, und das ist unbedingt zu empfehlen,  seine Schrift „Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“ vornimmt, wird etwas erleben, das es bereits seit langer Zeit nicht mehr gibt. Da wird sehr kenntnisreich der Bogen gespannt, wie sich die Entwicklung von den Mythen und der Religion bis zur klassischen Deutschen Philosophie und der Aufklärung vollzog. Es handelt sich dabei jedoch um kein trockenes Werk, sondern es ist eine kraft- wie humorvolle Darstellung, die immer das Gefühl vermittelt, da steht einer am Rande des Geschehens, der zwar dazu gehört und das auch nicht leugnet, der aber gleichzeitig um andere Sichtweisen weiß und daher die Distanz zu allem bewahrt. Geschrieben hat Heine dieses Werk übrigens für die französische Leserschaft, dem Land seines Exils. Er versuchte zu erklären, warum die Deutschen so denken und fühlen, wie sie es tun.

An anderer großer Wurf Heines war ein strikt journalistischer. Es handelte sich dieses Mal um eine Artikelreihe für die Augsburger Allgemeine Zeitung. Dort durfte der in Paris lebende und in Deutschland nahezu überall der Zensur unterliegende Heine noch publizieren. Er nannte die Serie „Französische Zustände“. In einer sehr kurzweiligen Art schrieb er dort über das zeitgenössische Paris, über Mode, Kunst und den neuesten Klatsch. Was er damit jedoch transportierte, das waren Informationen über den Zeitgeist in Frankreich, über den Fortschritt und die Rückschläge der Revolution und über die Notwendigkeiten einer Politik, die die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft zum Ziel hat. Den stumpfsinnigen Zensoren fiel das nicht auf, und so hatte die deutsche Leserschaft ein Bild Frankreichs erreicht, das fern der offiziellen Feindbilder lag.

Warum diese Hommage? Ich habe die Texte, die aus den Abteilungen der Auslandskorrespondenz generell und vor den Europawahlen besonders auf den Markt kamen, auf mich wirken lassen. Zumeist wirkten sie oberflächlich, dann kam hinzu, dass sie das wiederholten, was die Regierung schon hatte verlautbaren lassen und, das war das Schlimmste, die urteilten. 

Lagen die politischen Verhältnisse in den beobachteten Ländern anders, gab es andere Vorstellungen, wie man agieren müsse, dann wurde mit Zorn oder Herablassung darüber berichtet. Diese Texte, die von hoch bezahlten politischen Journalisten produziert werden, boten alles auf, um Ressentiments zu schüren und sie vermittelten nichts, was hätte zum gegenseitigen Verständnis beitragen können. Genau das aber wird von diesem Journalismus reklamiert. Und, um es kurz zu machen, mit der Armseligkeit des Ressentiments lässt sich nichts Konstruktives erreichen, dafür wird eines sicherlich gewährleistet: das Vertrauen ist dahin. Irreparabel!

 Wie dringend und schön wäre es, Geschichten aus den Ländern zu hören, die anhand der einzelnen Erfahrungen und daraus resultierenden Motive das erklärten, was die große Politik aus den Menschen macht. Warum ein Verwaltungsangestellter aus Nottingham im Brexit eine Alternative sieht, warum eine polnische Arbeiterin die jetzige Regierung wählt und warum ein niederländischer Designer sich entschieden hat, jetzt in der Sozialdemokratie sein Glück zu suchen. Und warum die portugiesische Schauspielerin, die nach der Streichung des kompletten Kulturetats im Rahmen der Sanierung der Staatsfinanzen jetzt an der Algarve als Bedienung arbeitet, nicht gut auf die Deutschen zu sprechen ist. 

Aber das erfordert Empathie, nicht Ideologie.  

„Die Menschen sind keine Esel!“

Heinrich Heine schuf das Bild, dass die Menschen keine Esel seien. Sie würden gleich verstehen, dass Rindfleisch und Zuckererbsen bekömmlicher seien als altes Brot. Ein schönes Bild, aber wohl auch ein allzu optimistisches Kalkül. Aus heutiger Sicht wäre es nicht mehr anwendbar, wahrscheinlich finge es mit einer Diskussion über das Rindfleisch an. Aber was wäre die richtige Bemerkung, um ein optimistisches Bild in schwierigen Zeiten zu malen? Vielleicht ginge es in die Richtung, das die Menschen keine trivialen Maschinen sind und exklusiv Befehlen gehorchen, die einer interessengeleiteten Rationalität folgen. Und, wenn sie schon keine Esel sind, dann sind sie vielleicht neuzeitliche Seismographen. Die Ratio liegt oft geschändet auf den Boulevards, aber die Empfindung führt sie nicht selten auf den richtigen Weg. Viele Menschen merken, wenn etwas nicht stimmt. Auch wenn sie es nicht gleich erklären können.

Was liegt dieser seismographischen Eigenschaft zugrunde? Auf jeden Fall die eigene praktische Erfahrung, das, was jeder einzelne Mensch in seinem bisherigen Leben durchlaufen hat. Das fängt mit den Ur-Erlebnissen an und endet mit den so genannten eigenen Weisheiten. „Wirklich große Leute“, so pflegte meine Großmutter, die alle den roten Zaren nannten, zu sagen, „die wirklich großen Leute, die erkennst du daran, wie sie die kleinen behandeln“. Einfach, aber wahr. Und das Ergebnis einer lebenslangen Beobachtung. Und wenn es nicht rational verarbeitet wird, dann existiert es dennoch bei vielen im Gefühl. Die kollektive Erfahrung existiert, auch wenn sie nirgendwo gemessen wird. Das führt nicht selten zum Entsetzen derer, die doch wie triviale Maschinen funktionieren, wie man nach der Wahl Donald Trumps hierzulande beobachten konnte.

Und so hat jede Epoche ihre eigenen, tief in der kollektiven Psyche liegenden Momente, die zumeist erst hinterher, im Sinne einer historiographischen Rekonstruktion, bewusst wahrgenommen und sichtbar werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die heutige Aufarbeitung des Ausbruch des I. Weltkrieges. Da reden Historiker ganz bewusst von Schlafwandlern, die in den Krieg hineingeschlittert sind, und Unrecht haben sie nicht. Selbstverständlich existierten handfeste Interessen, aber was war es, das kollektiv und psychisch, und auf allen Seiten dort in Gang gesetzt wurde? Und es setzte sich fort in einer deutschen Revolution, die zu Beginn, während der 15 Weimarer Jahre und final 1933 vor allem an der Unfähigkeit scheiterte, sich psychisch von der Autorität loszusagen und ein eigenes, selbstbestimmtes Leben ohne das Über-Ich und die eigene psychische Krise zu überleben. 

Es ist anzuraten, sich die Äußerungen der kollektiven Psyche oder, vielleicht noch zeitgemäßer, die Funktionsweise, das Programm und die Apparatur der kollektiven Befindlichkeit angesichts der Multifunktionskrise, in die wir hineinschlittern, genau zu beobachten. Denn dort lauern die Antworten auf die Reaktionen auf die konzentrierte Phase der Instabilität. Und, daran hat sich nichts geändert, es ist zu verorten, inwieweit das kollektive Bewusstsein umgeht mit Ursache und Wirkung. letztendlich wird es wieder die Frage sein, ob dieses große Unbewusste in der Lage sein wird, sich von den institutionellen Schranken der sittlichen Überwachung zu lösen und stattdessen etwas Neues zu setzen. Frei von desaströser Vergangenheit, deren Logik auf einer mentalen Käfighaltung beruht. Das ist viel verlangt. Achten wir auf das Seismographische!

Der Angriff auf die Appelative

In der deutschen Sprache existiert ein Konstrukt, das in hohem Maße Sinn vermittelt. Es handelt sich um die so genannten Appelative. Sie umschrieben etwas, das existiert, aber von dem es keinen Sinn macht, es zu quantifizieren. Jeder Mensch kennt diesen Umstand und ist es auch gewohnt, mit dem Appelativ zu arbeiten. Es handelt sich um Substantive wie Hunger und Durst, aber auch um Wasser und Feuer, die einen Zustand oder eine Substanz beschreiben, die nicht quantifiziert werden können. Bis auf den Tag, an dem der Plural Einzug hielt und nicht nur einen Angriff auf die deutsche Grammatik führte, sondern auch dokumentierte, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist. Nämlich das, in dem nicht nur vieles, sondern alles gemessen, gewogen und gezählt werden kann. Der Tag, an dem die Verwertungslogik dem letzten Rest an menschlicher Vernunft den Krieg erklärte.

Es begann mit dem Wort Bedarf. Auch der Bedarf war und ist etwas, das nicht genau quantifiziert werden kann und muss. Wenn Bedarf besteht, muss er gedeckt werden. Wie, das wird sich in einem Prozess der Erkenntnis noch herausstellen. Anscheinend ist diese Unwägbarkeit ein zu großes Risiko gewesen für die Logik der Vermarktung. Plötzlich gab es Bedarfe, die genau benannt werden konnten, oder zumindest meinten, dass sie benannt werden könnten. Und zunächst schleichend, dann zügig bekam der Appelativ Bedarf einen Plural und die Logik der deutschen Sprache eine schallende Ohrfeige.

Ja, auch Appelative haben zuweilen einen Plural, dabei handelt es sich um Ausflüge in die Fachsprache, dann werden aus verschiedenen Stahlsorten Stähle. Die Übertragung dieser Regel auf das Ganze bedeutet jedoch eine Revolution. Sie ersetzt die feine Logik, die es versteht, Sinn, Ethik und die reale, zählbare Welt in ein Verhältnis zueinander zu setzen, durch die Weltanschauung der Registrierkasse. Alles ist zählbar, alles ist messbar, alles kann gewogen und quantifiziert werden und demnach kann allem ein Wert zugemessen werden. Das ist gut für den Markt, das ist das Ende von Entscheidungen, denen andere Kriterien zugrunde liegen wie die nackte Verwertung. Willkommen in der schönen neuen Welt! Willkommen in einer Sprache, deren Semantik entschlüsselt werden kann als die eines neuen Totalitarismus.

So aberwitzig es klingt: Mit dem Plural für Bedarf wurde die Tür geöffnet für die Privatisierung von Wasser und Luft, lebenserforderliche Ressourcen für jedes Individuum. Schon haben große Konzerne ihren Griff danach verdeutlicht und in den unüberschaubaren und intransparenten Korridoren der EU wird bereits darüber verhandelt. Wir wittern, was naht, und wir ringen um Strategien, um die schöne neue Welt, die im richtigen Leben die lodernde Hölle ist, noch irgendwie zu verhindern.

Dazu bedarf es vieler Schritte. Einer von den vielen wird sein, aus dem Bedarf keine Bedarfe zu machen, das Wasser und die Luft nicht quantifizierter zu machen und den Schlächtern ethisch und kulturell abgeleiteter Sprachformen den Kampf anzusagen. Es ist töricht, jeden Trend in der Sprache zu kopieren und mitzumachen. Das Wort geht der Tat voraus. Das schrieb nicht nur der kluge Heinrich Heine, das wusste die abendländische Zivilisation bis in die Antike und das gilt auch heute noch. Daher ist es unabdingbar, die Appelative zu retten. Vor dem Zugriff durch die Registrierkasse!