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Ostenmauer – 17. Bin ich in dieses Land gekommen?

Bin ich in dieses Land gekommen, um mir Jahrzehnte eine politische Debatte über das Asyl anzuhören? Bin ich in dieses Land gekommen, um mir die ganze Zeit anzuhören, dass es kein anderes gibt, in dem das Leben so schön ist? Bin ich in dieses Land gekommen, um mir ein Jahrzehnt lang das Wort „Dosenpfand“ in den Nachrichten anzuhören? Bin ich in dieses Land gekommen, um mich an der Ablösung des „Dosenpfands“ durch den Begriff der „Nachhaltigkeit“ zu erfrischen? Bin ich in dieses Land gekommen, um bei jeder Wahl mit dem Begriff des „kleineren Übels“ konfrontiert zu werden? Bin ich in dieses Land gekommen, das in keinem Punkt in der Lage ist, aus den eigenen Untaten zu lernen? Bin ich in dieses Land gekommen, um bei jeder von mir geäußerten Kritik zu hören, ich solle doch woanders hingehen? Bin ich in dieses Land gekommen, um mir anzuhören, man sei in jeder nur möglichen Disziplin Weltmeister? Bin ich in dieses Land gekommen, um mir immer wieder anzuhören, dass Fremdes suspekt ist, aber nicht definiert werden kann, was nicht fremd, sondern üblich ist? Bin ich in dieses Land gekommen, um festzustellen, dass Fragen als Fahnenflucht betrachtet werden? Bin ich in dieses Land gekommen, um festzustellen, dass Unzufriedenheit mit der größt möglichen Irrationalität beantwortet wird? Bin ich in dieses Land gekommen? Bin ich jemals in diesem Land angekommen? 

Oder hatte Ernst Bloch Recht, als er in seinem Prinzip Hoffnung Heimat als das definierte, was jedem in die Kindheit scheine, worin noch niemand war?  

„Das jedem in die Kindheit scheint, worin noch niemand war“

Enjoy the Rain!

Warum ausgerechnet Indonesien so vieles bot, was in meine Kindheit schien, hat zum einen konkrete Gründe und bleibt zum anderen ein Mysterium. Dass ich dort Pflanzen und Stoffe sah, die ich aus meinen Tagen im Münsterland kannte, ist aus der Nähe zur niederländischen Grenze und den häufigen Besuchen auf den dortigen Märkten zu erklären. Und dass einmal, bei einer deutschen Weihnachtsfeier in einem großen Hotel in Jakarta in meinem Rücken eine Frau sprach, die eine Intonation hatte und Worte benutzte wie meine Tante, war sicherlich ein Zufall. Als ich mich umdrehte, sah ich eine etwas betagtere javanische Frau, die als Waisenkind in meiner westfälischen Stadt auf dem von Nonnen geführten Lyzeum ihre Schulbildung erhalten hatte. Und dass ich in Jakarta immer wieder Menschen traf, die Deutsch sprachen und Stätten in den Niederlanden kannten, die mir auch vertraut waren, ist auf die durch den Kolonialismus entstandenen Verbindungen zurückzuführen.

Und dennoch gab es in den Jahren immer wieder etwas, das sich als handfestes Déjà-vu entpuppte. Das wohl auch dort wieder am einfachsten zu erklärende war die Kombination von Regen und Wärme. Die Sommer meiner Kindheit waren so. Es war warm und es regnete immer wieder, teils auch heftig. Und noch heute, wenn ich im Sommer einen Schauer erwische, entbrennt bei mir für einen kurzen Augenblick ein Glücksgefühl aus meiner Kindheit. Wenn es richtig warm war, dann hatten wir Ferien, und wenn es dann regnete, blieben wir trotzdem draußen, spielten Fußball, tanzen auf den Straßen oder lagen im nassen Maisfeld und machten Dinge, die nicht sichtbar sein sollten.

In Indonesien gibt es die Trocken- und die Regenzeit. Wenn letztere vorherrscht, die sich kalendarisch ungefähr mit unserem Winter deckt, dann ist das etwas anderes, als sich ein Europäer vorstellen kann. Denn dann kann es vorkommen, dass wochenlang ungeheure Wassermassen vom Himmel fallen und man eher glaubt, es würde ein gigantischer Behälter ausgekippt. In dieser Zeit sind die Indonesier von ihrer Gemütslage her den Menschen in Deutschland vor allem im November sehr ähnlich. Obwohl immer noch eine Durchschnittstemperatur von 30 Grad herrscht, ist die durch den Regen bedingte Eintrübung dafür verantwortlich, dass die Stimmung nach unten geht. Hinzu kommt, dass in der Musim Hujan, der Regenzeit, alles mögliche kaputt geht. Telefonleitungen fallen aus, Straßen sacken ab und werden zu Teichen, eine Glühbirne nach der anderen brennt durch und Wasserpumpen geben ihren Geist auf.

Einmal hatte ich im nördlich von Jakarta gelegenen Puncak Gebirge, dessen Attraktivität darin besteht, dass es dort wegen der Höhe kühler ist, einen mehrtägigen Workshop während der Regenzeit. Es goss und schüttete ohne Unterlass, der Gegenstand des Workshops befasste sich mit dem Strategiewechsel einer Organisation, was per se nie ohne Konflikte vonstatten geht. Wir saßen im Hotel fest und tagten im Halbdunkeln, es flogen die Fetzen und die Stimmung wurde immer schlechter. Am Ende einer der Tage, an dem die Jugend gegen die lebensalte Direktoren rebelliert hatte, war es richtig heftig zugegangen. Ibu Soemilah, so ihr Name, hatte als Partisanin für die Unabhängigkeit des Landes gekämpft, war später Ärztin geworden und hatte das Institut, um das es jetzt ging, mit aufgebaut. Nun rebellierte die Jugend mit unbeschreiblicher Vehemenz und sie war geduldig, nahm vieles auf und verriet mit keinem Wesenszug die Arroganz etablierter Macht. Als ich mich von ihr für den Tag verabschieden wollte, lachte sie mich herzlich an und riet mir: Enjoy the Rain! 

Selten in meinem Leben hatte ich mich so zuhause gefühlt.

Physische und geistige Heimat

Der Begriff der Heimat ist wieder up to date. Nach den Rauschphasen, in denen Internationalismus und Kosmopolitismus das non plus ultra darstellten, nach einer allgemein angenommenen und akzeptierten Globalisierung, scheint plötzlich dieser Begriff wieder auf, der besonders in Deutschland immer darunter litt, dass er ideologisch überfrachtet war. Für die in Europa großen Auswanderernationen, zu denen die Deutschen im Hinblick auf die USA auch gehören, gelten weniger politisch belastete Heimatbegriffe. Italiener und Iren, die es in weitaus höherem Maße rund um den Erdball verschlagen hat, definierten ihren Heimatbegriff außer der Sprache immer mehr über Küche und Familie, Musik und Tradition. Nur in der deutschen Variante schwang immer auch eine reaktionäre politische Attitüde mit. Was nicht davon abhalten soll, die Renaissance des Begriffs Heimat ernst zu nehmen und zu überlegen, was dahintersteckt.

Zum einen: auch die Deutschen haben ein Recht auf Heimat. Sie haben ein Recht darauf, sich darüber auseinanderzusetzen und dieses öffentlich zu tun. Gerade die Geschichte der politischen Kontaminierung macht es zwingen erforderlich, über Heimat in der Öffentlichkeit zu sprechen und zu definieren, was sie für die zeitgenössischen Generationen bedeutet.

Eine Erklärung für die neuerliche Hausse der Heimat kann sicherlich in der Globalisierung gesehen werden. Mit ihr einher ging die große Unordnung und Orientierungslosigkeit für immer mehr Menschen. Indem sie ihre Aufmerksamkeit auf den Raum lenken, in dem sie sich selbst ganz konkret mit ihrer Existenz physisch bewegen, holen sie sich den Gegenstand der Debatte in ihren eigenen Lebensbereich. Das ist gut so, denn wir wissen, die Welt liegt im Detail. Sollte es gelingen, an dem konkret erlebbaren Mikrokosmos Exempel für das soziale und kulturelle Leben zu statuieren, die in der allgemeinen Debatte um die Globalisierung unter dem Vorzeichen des Wirtschaftsliberalismus unterzugehen drohen oder bereits untergegangen sind, dann wäre etwas sehr Positives erreicht. Dann könnte die Diskussion um Heimat eine überaus wichtige Rolle spielen bei der Aufarbeitung verlorener Identitäten und zunehmender Entfremdung. Insofern der Appell: Bitte die Diskussion um Heimat nicht im Keine diskreditieren, sondern aktiv die Faktoren formulieren, die wichtig sind, um Heimat zu bestimmen.

Denn Heimat ist bei aller Konkretisierung ein Begriff der Meta-Ebene. Selbst wenn ihr ganz konkrete Geographien, Gerüche, ethnische Ensembles oder musikalische Muster unterlegt werden, sie bleibt ein Konstrukt in den Köpfen derer, die sich darauf einigen. Alle anderen, die an diesem fiktiven Ort ebenso präsent sind, sich aber nicht auf den gelebten Begriff einlassen wollen, sind die Outcasts im eigenen Land.

Und gerade weil Heimat immer ein Begriff der Meta-Ebene ist, sollte nicht versäumt werden, neben den konkreten Lebensbräuchen, der Gestaltung des öffentlichen Raumes und der kulturellen Tradition auch über das zu streiten, was in der deutschen Sprache mit dem treffenden Terminus der geistigen Heimat beschrieben wird. Das könnte der Schlüssel sein zu einer revolutionären Wendung in einer ansonsten verstaubten Auseinandersetzung. Die bewusste Hinzunahme der geistigen Voraussetzungen für die Definition der Heimat verhindert die verdeckte Ideologisierung der Heimat hinter der Küchenschürze. Der Ort und die Konkretion, derer Heimat bedarf, hat in der Definition der geistigen Heimat nichts zu suchen. Da ist der Mensch zuhause, wo er auf Wesen trifft, die das Leben in gleicher Weise leben wollen, jenseits der Geographie, des Klimas oder der Zunge. So wird der Entwurf aussehen müssen.