Schlagwort-Archive: Hanna Arendt

Medienkonsum: „Ich würde sie alle zerschmirgeln!“

Kürzlich war es wieder da. Ein Erlebnis, das nicht einmal in meinen wildesten Phantasien eine Chance auf Vorstellung, geschweige denn Realisierung gehabt hätte. Ein guter Bekannter, den ich seit einem Vierteljahrhundert kenne, den ich immer für seine positive Lebenseinstellung und Sachlichkeit geschätzt habe, den ich als emphatischen Menschen mit einem sozialen Gewissen gekannt habe, donnerte bei einer Diskussion über die Situation und das gegenwärtige Elend im Gaza-Streifen heraus, „ich würde die da alle zerschmirgeln!“ Wenig später wollte er es dann auch noch den Russen „besorgen“. Wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen und ich fragte mich, was wohl in der Zwischenzeit passiert ist, dass aus einem zivilisierten Zeitgenossen in relativ kurzer Zeit ein gewaltgeiler Mensch geworden ist. 

Und komme mir niemand mit dem Kalauer, die jeweils andere Seite hätte auch Verbrecher in ihren Reihen! Das Argument ist dasselbe, das die Hitler-Apologeten immer im Gepäck hatten, wenn sie angeklagt wurden. „Was haben denn die anderen gemacht?“ Ja, wenn das so ist, hatten wir damals als junge Menschen geantwortet, dann war ja alles in Ordnung. Dann war es eine wunderbare Sache, mit Messer und Mord in andere Länder einzufallen und sich aufzuführen wie die letzten Berserker. Das Fatale ist nur, dass diese Argumentation der Gewalt- und Kriegsbefürworter längst wieder zur bundesrepublikanischen Normalität gehören. Von außen betrachtet, haben wir längst unsere zivilisatorische Substanz aufgebraucht und befinden uns wieder in einem Stadium der Barbarei. Was schrieb Hanna Arendt so treffend?: 

„Der Tod der menschlichen Empathie ist eines der frühesten und deutlichsten Zeichen dafür, dass eine Kultur gerade in Barbarei verfällt.“

Was meinen Bekannten betrifft, so habe ich mich unauffällig während unseres Gesprächs danach erkundigt, wo er sich informiert, welche Zeitungen er liest, welche politischen Sendungen er im Fernsehen verfolgt und welche Bücher er sich zu Gemüte geführt hat. Darunter, das Spaßes halber zu seiner Ehrenrettung, war nichts, was irgendwo auf dem Index stand.  Da bestünde nirgendwo eine Anklage wegen Hass & Hetze. Nein, das waren FAZ, Süddeutsche, Spiegel und Zeit, das waren Illner, Lanz und Maischberger und immer noch in Lehre stehende Hochschullehrer als Autoren. 

Wäre man naiv, so könnte man die Frage stellen, wie es denn dann sein kann, dass ein zivilisierter Mensch, der einmal über so etwas wie Menschenbildung verfügt hat, in einem relativ kurzen Zeitraum zumindest verbal zu einer Bestie mutiert? Oder, Ironie beiseite, Chapeau, die Leitmedien und natürlich der öffentliche politische Diskurs haben es bewerkstelligt. Weil mir eine Erkrankung des Bekannten nicht aufgefallen ist und sich immer wieder leider, der Eindruck bestätigt, dass es sich nicht um eine Einzelerscheinung handelt, sondern wir es mit einem Massenphänomen zu tun haben. 

Zumindest in dem Areal, was im Allgemeinen als Mittelschicht bezeichnet wird. Deren Mitglieder konnte aufgrund einer immer noch netten sozialen Lage sukzessiv der ethische Kompass zertrümmert  werden, ohne dass sie es bemerkt hätten. Sie blöken mittlerweile alles nach, was die Kriegsverbrecher diesseits der Mauer als Parole ausgeben.

Die Hoffnung, die besteht, liegt bei denen, die weder Zeit noch Interesse haben, sich dem medialen und diskursiven Brainwashing hinzugeben. Vielleicht als ein Tipp für Jene, die noch an eine Veränderung durch Wahlen glauben: Wenden Sie sich um Gottes Willen nicht an die Konsumenten der oben erwähnten Organe! Denken sie an die, die sowieso nichts zu verlieren haben. Da ist noch Potenzial. Der Rest ist das schäbige Relikt eines gescheiterten Versuchs. 

Das Rudel, die Doxa und die Banalität des Bösen

Boris Cyrulnik, Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können

Aufgrund seiner persönlichen Kindheitserfahrungen und aufgrund des tragischen Schicksals seiner Eltern könnte man es als eine notwendige Folge betrachten, dass der 1937 in Bordeaux geborene Neuropsychiater Boris Cyrulnik, rückblickend auf eine lange und erfolgreiche Karriere in seinem Beruf, sich mit den Wirkungsphänomenen beschäftigt, die das Drama seiner Familie mit auslösten. Seine aus Polen stammenden Eltern wurden in den Vernichtungslagern ermordet und er entkam als Kind den Schergen nur durch die Mithilfe mutiger Menschen. In seinem jüngsten Buch mit dem Titel „Die mit den Wölfen heulen“ reflektiert er die verschiedenen Aspekte, die eine Gesellschaft zur Barbarei treiben können. 

Und obwohl die Anlässe seiner Betrachtung immer im historischen Terrain des Faschismus begründet sind, kann alles, was Cyrulnik an Erkenntnissen in diesem Buch preisgibt und zur Disposition stellt, auch in unsere aktuelle gesellschaftliche Situation übertragen werden. Es sind die Fragen, wie es zu der von dem französischen Soziologen Bourdieu als Doxa bezeichneten Lage kommen kann, nämlich die Herrschaft von Überzeugungen und Meinungen, die von einer Gesellschaft nicht hinterfragt wurden, aber als wahr und wirklich angenommen werden. Und welche Mechanismen wirken, wenn sich Individuen in den Tross von unheilvollen Kohorten begeben, obwohl sie wissen, dass deren Ansichten wie deren Benehmen unzivilisiert und brutal sind. Was macht das von ihm so treffend gemachte logische Delirium aus, das dazu verleitet, aasend durch die Zeit zu rasen und das verhindert, sich kühlen Kopfes mit dem auseinanderzusetzen, was vor den eigenen Augen vor sich geht. 

Das Buch ist im Grunde eine Übung mit vielen Variationen zu dem immer wieder auftretenden Konflikt zwischen kalter Ratio und Massenpsychose. Anhand vieler Beispiele illustriert Cyrulnik sowohl die notwendigen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Handeln und die fatale Logik fehlgeleiteter Handlungen. Das, was Hanna Arndt, die er explizit immer wieder zitiert, die „Banalität des Bösen“ genannt hat, taucht in vielen Varianten auf.

Die Lektüre dieses Buches ist nicht nur ein bereichernder Beitrag, um die fatale Geschichte von Diktatur und Vernichtung rückblickend unter dem Aspekt seiner psychologischen Wirkungsweisen zu dekonstruieren, sondern auch genug Denkstoff für den gesellschaftlichen Zustand, in dem wir uns aktuell befinden. Was machen die heutigen technischen Möglichkeiten der Massenkommunikationsmittel mit uns? Was müsste unternommen werden, um einen rationalen, fundierten Kompass zu schaffen, um gegen die psychotischen Entwürfe von unzähligen Heilsbringern aller möglicher Couleur bestehen zu können? Was ist erforderlich, um gegen das Rudel zu bestehen?

Boris Cyrulnik, Die mit den Wölfen heulen, eine Empfehlung, die zu mancher Grübelei führen wird!

 Herausgeber  :  Droemer HC; 1. Edition (1. März 2023)

  • Sprache  :  Deutsch
  • Gebundene Ausgabe  :  240 Seiten
  • ISBN-10  :  3426279002
  • ISBN-13  :  978-3426279007
  • Originaltitel  :  Le Laboureur et les Mangeurs de vent. Liberté intérieure et confortable servitude