Charlie Haden. Land of the Sun
Der Tod ist für die, die weiter das hiesige Dasein vor Augen haben, ein Anlass zu Trauer, Besinnung und Melancholie. Diejenigen, die die Schwelle überschritten haben und um die es bei dem Akt des Nachdenkens geht, haben damit nichts mehr zu tun. Charles Edward, genannt Charlie Haden, der kürzlich im Alter von 77 Jahren starb, zeichnete sich dadurch aus, dass er sich mit seinem musikalischen Schaffen seit Jahrzehnten in Sphären bewegte, die weit über die profanen, irdischen Aspekte hinauswiesen. Was sind da Titulierungen wie ein markanter Vertreter des Free Jazz? Sie führen zu nichts, wenn sie nicht dazu dienten, seine Werke zu hören und sich Inspirationen daraus zu holen, die in die Richtung weisen, in der der Akteur seit langem gewirkt hat.
In einer Jahreszeit, in der sich die Sonne in vielen Teilen des Globus in ihrer energetisch ausgelassensten Form zeigt, drängt sich ein Album auf, das Charlie Haden bereits vor einem Jahrzehnt aufgenommen hat und das wie alle seine Alben aus der Reihe fällt. Gerade das war sein Markenzeichen, die Abnormität vom Profanen, das Überschreiten, das Experimentelle ohne die betonte Vermarktung des Außergewöhnlichen. Im Jahre 2003 nahm Charlie Haden, zusammen mit Ausnahmekünstlern wie Gonzalo Rubalcaba (piano), Joe Lovano (tenor sax), Ignacio Berroa (drums) und Michael Rodriguez (trumpet) das Album Land of the Sun auf. Natürlich, so müsste gesagt werden, bekam es einen Grammy für das damals beste Album des Latin Jazz, aber das waren m Leben Hadens Margen, auf die es ihm nicht ankam.
Was in Land of the Sun gelang, war das Hinübergleiten in die Dimension der Zeitlosigkeit. Das Genre für derartige Unterfangen ist immer der Jazz, wenn er einher geht mit dem Diktum des Experimentellen, ohne sich letzterem als Axiom zu unterwerfen. Das Außergewöhnliche des Ausnahmebassisten Charlie Haden kommt in diesem Werk in vielen Aspekten zum Ausdruck. Da ist keine Referenz an die Eskapade, sondern die minutiöse Verpflichtung auf die eigene, einfache Figur, die schlichte Aussage, die sich steigert in gekonnten Selbstzitaten, die eine Variation des Existenziellen erlaubt und anmahnt. Das, was revolutionär ist und war, verliert bei Hadens Spielweise das Hysterische, es wirkt profan, obwohl es in einem Orkus der spirituellen Maßlosigkeit stattfindet. Die Kombattanten bei dieser Revolution haben die Instruktionen des mentalen Kopfes nicht nur gut, sondern spielerisch verstanden. Rubalcabas Einwürfe auf dem Klavier beziehen sich auf Hadens Figuren, Rodriguez Trompete und Flügelhorn entschwirren in die Transzendenz und Lovanos Tenor durchdringt den Sonnenrhythmus mit den tonalen Folgen des Jazz.
Land of the Sun ist das Entree zu einer ruhigen, inspirierten Reflexion des Daseins und seiner leuchtenden Seiten im Jenseits. Es bedarf des Lichtes, um die Wege jenseits des Sichtbaren zu erahnen. Da hilft kein Interpretationsbesteck irgend eines Genres, weil es Haden gelungen ist, eine Partitur des Transzendenten zu entwerfen, auf der sich die Akteure bewegen, ohne diese selbst lesen zu müssen. Zumindest wirkt es so. Charlie Haden war dafür bekannt, dass er nichts dem Zufall überließ, ein akribischer Mensch, der die Reisen in das andere Dasein minutiös plante, wie eine Expedition, als ginge es darum, die Akteure vor einer Havarie zu bewahren. Das ist die Meisterschaft, die hinter der Leichtigkeit aufleuchtet. Wer den Sommer nutzen will, um diese existenzielle Reise zu unternehmen, dem sei Land of the Sun in den höchsten Temperaturen empfohlen.
