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Wie ein Betriebsrat

Kürzlich bemühte ein SPD-Politiker einen Vergleich, der es in sich hat. Es ging um die Rolle der SPD bereits in der zurückliegenden Koalition. Er nannte das Agieren seiner Partei die Wahrnehmung einer Betriebsratsfunktion. Und genau betrachtet hat er mitten ins Schwarze getroffen. Das, was die Partei als Resultate ihrer Mitregentschaft sieht sind trade-unionistische Errungenschaften. Es geht im Wesentlichen um Sozialleistungen für die Population des Unternehmens Deutschland. Tatsächlich so, als hätte ein Betriebsrat gute Bedingungen für die Belegschaft ausgehandelt, unabhängig davon, dass nicht für alle gesorgt werden konnte. Trotz seiner Erfolge ist der Betriebsrat entsetzt darüber, wie wenig die Belegschaft die von ihm ausgehandelten Ergebnisse honoriert.

Das Problem ist das falsche Rollenverständnis. Denn die Belegschaft interessiert sich für die Unternehmensstrategie, d.h. sie will die politischen Linien identifizieren, an denen sich die Nation orientiert. Von der Kanzlerin, einer Meisterin der Mystifikation und ihrer badischen Zuchthauspraline, dem ehemaligen Finanzminister, stammen die Worte, man fahre auf Sicht. Dass sich das Stammpersonal der Union, seinerseits aus der hohen Schule Helmut Kohls, nicht durch programmatische Präzision auszeichnet, ruft keine Enttäuschung hervor. Dass die Sozialdemokratie diesem Weg folgt, irritiert allerdings in hohem Maße. Sie ist kein Honoratiorenverein, der je nach Gusto der Personen seine Entscheidungen trifft, sondern bei ihr handelt es sich um eine Partei, die zumindest historisch mit einem alternativen Gesellschaftsentwurf durch das Leben geht.

Auf Sicht fahren ist da zu wenig. Und Prozente auszurechnen bei Steuern oder Beiträgen eben auch. Da geht es um das Wesen. Der Sozialdemokratie hätte die Bevölkerung vielleicht noch zugetraut, dass sie zum Beispiel die Frage klärt, ob die rechts- und sittenwidrige Plünderung der Rentenkassen durch Absenkung der Leistungen bei gleichzeitiger Erhöhung der Schwellen und Doppelbesteuerung so ginge oder nicht. Darum zu feilschen, wie viel Prozent der realen Kürzungen nach Plünderung nun sozialverträglich sind oder nicht, das ist den meisten politisch zu wenig.

Oder in Bezug auf die Außenpolitik! Da hätten viele der Sozialdemokratie vielleicht zugetraut, eine Position einzunehmen bei der Osterweiterung der NATO, oder bei der Faschisierung der Türkei, oder bei der Austeritätspolitik in der EU. Und auch da ist es zu wenig, dem kriegstreibenden Kurs der USA einfach hinterher zu taumeln, mit den Schergen Erdogans Waffen gegen Eingekerkerte zu dealen oder über Details bei der großangelegten Entstaatlichungsoffensive des Neoliberalismus zu diskutieren. In allem hätte Grundsätzlicheres stattfinden müssen. Die großen Herausforderungen, die die Welt momentan hervorbringt, benötigen Gesellschaftsentwürfe einer Partei, nicht eines Betriebsrates.

Der englische Begriff der Trade-Unions, der für Gewerkschaften steht, hat sich in der Debatte um die Frage, wie eine Gesellschaft umzugestalten sei, zu einer festen Größe gemausert. Sehr früh erkannten die Spiriti recti der internationalen Arbeiterbewegung, dass der Tradeunionismus, wie sie das Phänomen nannten, der vorzeitige Tod des gesellschaftlichen Gegenentwurfs bedeutete. Das Aushandeln konkreter Arbeits- und Reproduktionsbedingungen ist richtig und wichtig, aber es verkommt zu einer Taktik ohne Strategie, wenn die Vision einer anderen Gesellschaft beim Tagesgeschäft keine Rolle spielt.

Letzteres ist jedoch passiert und wird sich auch so schnell nicht ändern. Sowohl bei den Sondierungs- als auch bei den jetzigen Koalitionsverhandlungen sitzen wieder die Betriebsräte mit am Tisch. Die politische Strategie steht nicht zur Verhandlung. Da spendiert Mutti auch schon mal gerne den Kakao für die nächste Pause.

Ein Konvolut aus Befindlichkeiten

Wie weit ist die Gesellschaft bereit zu gehen bei einer Utopie, die keine ist? Alles, wofür die Geschichte dieses Landes in den letzten 250 Jahren steht, ist die der Erfindung, Innovation, Industrialisierung und Implementierung neuer Verfahren. Die technische Intelligenz ist das Asset dieses Landes. Nicht die politische Finesse, da sind wir wohl eher Rabauken. Nicht umsonst frotzelte Europa immer vom Land der Dichter und Denker. Das war kein Kompliment, sondern die Arroganz gegenüber einem Flickenteppich von Kleinfürstentümern und Miniaturkönigreichen, die es nicht zuwege brachten, eine Nation zu bilden. Dennoch, technische Entwicklungen fanden hier wiederholt ihren Ursprung, die Industrialisierung führte zu einer Wohlstandsentwicklung, die für ein rohstoffarmes Land eher untypisch ist.

Immer wieder gab es Strömungen gegen den technischen Fortschritt und die damit verknüpfte Werteproduktion. Das begann mit der Romantik, die sich den Anfängen der Moderne entgegenstellte und die – aus heutiger Sicht – die wohl intelligentesten Fragen stellte angesichts der robusten Unterjochungsmechanismen des aufziehenden Kapitalismus. Die unter dem Siegel des Fin de Siècle firmierende Kritik stand dem Industrialismus von Angesicht zu Angesicht gegenüber und ahnte bereits die desaströsen Aufteilungskriege, die kommen sollten. Avantgarde und Dada folgten und stellten nicht zu Unrecht die Sinnfrage, die sich stellte nach der Beziehung zwischen Produktivität und gleichzeitigem Destruktionspotenzial.

Bereits in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts reüssierte eine neuerliche Kapitalismus- und Technikkritik, die unter dem Slogan Zurück, oh Mensch, zur Mutter Erde zusammengefasst werden konnte. Flankiert von den ersten anthroposophischen und ökologischen Traktaten entspann sich ein Kult um tradierte Naturverfahren und einer der Natur analogen Lebensrhythmik. Nicht, dass diese Bewegung per se eine politische Radikalisierung in sich barg, aber gute Teile derselben fanden sich in der Blut- und Bodenideologie des Faschismus wieder, während andere in verdauungsphilosophische und seifenferne Kommunen nach Ascona entflohen.

Wieder konnte dieses Land große Fortschritte im Industrialismus vorweisen und wieder mündete der vermeintliche Wohlstand in einem sozialen Desaster, das den Krieg nach sich zog. So wundert es nicht, dass nach der Etablierung der Nachkriegsordnung, die wiederum auf Technik, Innovation, Industrialismus, Warenproduktion und Export setzte, eine romantisierte Gegenbewegung auf dem politischen Schirm auftauchte. Mit der Ökologiebewegung etablierte sich der historisch bereits verschiedene Male aufgetretene kulturelle Gegenreflex zur industriellen Verwertungsgesellschaft erstmals politisch. Zu verdanken hat die Bewegung dieses ihrem multiplen Ursprung: Naturverbundenheit, Anti-Modernismus, traumatisierte Teile der maoistischen Bewegung, Friedensbewegung, unterschiedliche sexuelle Orientierung und Gender-Emanzipationsprogramme kamen in der ersten Stunde zusammen und sicherten für lange Zeit die Existenz der Bewegung über aktuelle Anlässe hinaus.

Die konstante Präsenz dieser Bewegung als politische Partei in einem etablierten Spektrum ist aus dieser Diversität der Ansätze zu erklären. In allen thematischen Bereichen, in denen ein zum Teil nicht unberechtigtes Unbehagen immer wieder zum Durchbruch kommt, ist allerdings kein Gesellschaftsentwurf zu erkennen, der ein neues Paradigma gegenüber der immer noch dominierenden Existenz der Industriegesellschaft deutlich machen würde. So ist ein öffentlicher Diskurs entstanden, der sich immer wieder um Teilaspekte des Daseins dreht, dem großen Wurf, der nötig wäre, um eine andere Zukunft als der programmierten zu gestalten, bleibt jedoch aus. Insofern handelt es sich um eine Bewegung, die historisch alle Attribute zum Scheitern erneut mit sich trägt. Daher ist es abenteuerlich, von einer Alternative zu sprechen. Die existiert nicht, die Programmatik bleibt diffus wie eh und je. Ein Konvolut aus Befindlichkeiten ist nicht die Grundlage eines neuen Entwurfs.