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Wieviel Morde pro Woche?

Es lohnt, einmal für sich selbst zu zählen, wieviel Morde beim Fernsehen oder bei der Nutzung von Streaming-Diensten binnen einer Woche beobachtet werden können. Es sind mehr, als einem noch bewusst ist. Bereits vor Jahren lag eine Studie vor, nach der ein junger Mensch, der einen durchschnittlichen Fernsehkonsum aufwies, bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres an die 18.000 Mordfälle erlebt hatte. Meine These: die Zahl ist heute noch höher. Und die Frage, die sich kaum jemand stellt, die allerdings auf der Hand liegt, ist eine kulturprognostische. Was ist eigentlich mit einer Gesellschaft los, in der virtuell, zum Zeitvertreib, täglich gemordet wird, was das Zeug hält. Zugute zu halten ist der Gesellschaft, dass die virtuelle Übung nicht der tatsächlichen Statistik entspricht. Wäre das der Fall, dann hätte der Begriff des Fachkräftemangels bereits eine andere Dimension. 

Anscheinend existiert so etwas wie eine humane Urangst, die die Möglichkeit spiegelt, quasi aus dem Nichts heraus immer und überall gemeuchelt werden zu können. Was die vielen Mord- und Totschlag Serien allerdings garantieren, ist die Aufklärung der Delikte. Der Kitzel wird in der Regel besänftigt durch die Bestrafung der Täter und der damit verbundenen Rückversicherung, dass die Zahl der möglichen Mörder im Einklang mit ihren Vergehen reduziert wird. Ende gut, alles gut. Nichtsdestotrotz handelt es sich bei diesem Unterhaltungssetting um ein Indiz für eine krankhafte Entwicklung, die nicht unbedingt einen hohen Grad der Zivilisation widerspiegelt.

Dass diese archaischen Ängste systematisch genutzt werden, um die Gefühlslage der Bevölkerung emotional zu steuern, liegt auf der Hand. Ein bewährtes und immer wieder genutztes Mittel ist dafür der Agententhriller. Auch da geht es um Mord, Verschwörung, Betrug, Skrupellosigkeit und letztendlich das Überleben der Guten. Dass es sich bei den Delinquenten und den Charakteren des Bösen seit dem Kalten Krieg um Russen handelt, sofern die Produktionsstätten des Genres in den USA liegen, ist nicht verwunderlich. Kommen die Filme aus Großbritannien, sind bis zum heutigen Tag die Hunnen, sprich die Deutschen, immer noch die Bösewichter. Dass es so ist, bekommt man auf dem deutschen Markt wohlweislich kaum vermittelt.

Bei der Betrachtung der geschilderten Sachverhalte ist es kaum möglich, sich einer kritischen Gesellschaftsdiagnostik zu entziehen. Die Frage lässt sich nicht ausklammern, was mit einer Gesellschaft los ist, in der die Unterhaltung aus archaischen Existenzängsten besteht und in der eine politische Steuerung der nationalen Emotionslage mit Feindbildern bedient werden, die als Verursacher möglicher kollektiver Untergänge charakterisiert werden? 

Das Bedrückende sind die Ergebnisse. Alles scheint so zu funktionieren, wie geschildert.  Nach einem langweiligen Arbeitstag ein wenig gekitzelt und dann wieder beruhigt zu werden, erledigt durch die unzähligen, massenhaft produzierten Kriminalserien, oder, am besten kurz vor Wahlen, ein Agentenszenario frei Haus zu bekommen, bei dem die Salznüsschen nur unter Gänsehaut verschlungen werden können, ist die Art und Weise, wie es kredenzt wird.

Angesichts der gegenwärtigen, hoffentlich nicht mehr lange andauernden politischen Verhältnisse, die keinen qualitativen Wandel erwarten lassen, bleibt nur der Rat, sich dieser Art von Gehirnwäsche durch Abstinenz zu entziehen. Suchen Sie das Gespräch, sowohl mit Freunden als auch mit Menschen, die anders denken! Lesen Sie Bücher, die gut geschrieben sind und den Geist schulen! Und sprechen Sie mit denen, die sich immer noch im Prozess der sozialen Kontaminierung befinden! Sie brauchen Hilfe! Dringend!

Gesellschaftsdiagnostik über Leseverhalten

Manch konservative Eltern sind mit der penetranten Frage in Erinnerung geblieben, aus welchen Verhältnissen ein neuer Freund oder eine neue Freundin denn stamme. Damit assoziiert kam dann immer die Weisheit, sage mir, mit wem du verkehrst, und ich sage dir, wer du bist! Das, was von vielen Heranwachsenden als statusbezogene Belästigung und Einschränkung der Freiheit der sozialen Assoziation angesehen wurde, würde heute, aus anderen Motiven versteht sich, Vertreterinnen und Vertreter der systemischen Theorie als eine ur-vernünftige Betrachtungsweise einstufen. Die Frage des Sozialstatus ausgeklammert, wäre das Studium der Psychogramme und Verhaltensmuster derer, mit denen ein Individuum verkehrt, hoch aufschlussreich im Hinblick auf die eigene Befindlichkeit, psychische und soziale Disposition. Insofern ist der oben zitierte Satz durchaus verifizierbar.

Eine andere Möglichkeit, sich Aufschluss über Menschen und Gesellschaften zu verschaffen, ist den Fokus auf das zu richten, was kulturell produziert und konsumiert wird. Dabei sollte der Fehler vermieden werden, lineare oder gar Spiegelschlüsse zu ziehen. Filme, die in einer Gesellschaft en vogue sind, müssen nicht die dortigen Verhältnisse abbilden, sie können auch den Wunsch zum Ausdruck bringen, dass alles ganz anders wird. Das ist der Doppelcharakter, von dem Karl Marx in der Einleitung zur Hegelschen Rechtsphilosophie sprach, als er über die Religion räsonierte. Einerseits, so schrieb er, sei sie affirmativ, in dem sie auf den Himmel verweise, andererseits protestativ, weil ihre Idealbilder die Realität heftig negierten. So ist es, oder andererseits, so einfach, wie sich viele das gerne bei der Deutung der Phänomene auch machen, ist es eben nicht.

Literatur eignet sich, in dieser Betrachtung eine Rolle zu spielen. Justiert an den anfangs zitierten Satz, sei die provozierende These erlaubt, sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer du bist. Und noch mehr, sage mir, was eine Gesellschaft liest, und ich sage dir, was sie ist. Gemäß dieser Arbeitshypothese leben wir im Sommer in goldenen Zeiten. Jetzt, während der Ferien, genügt ein kleiner Spaziergang am Strand oder eine Runde am Swimmingpool, um einen Eindruck von dem Spektrum dessen zu bekommen, was momentan gelesen wird. Findet dann auch eine Kategorisierung derer, die dort versammelt sind statt, nach Nation und sozialer Klasse, dann wird es eine hoch interessante Geschichte. Wir bekommen eine Blitzdiagnose über die Befindlichkeit verschiedener Gesellschaften, ohne einen großen wissenschaftlichen Aufwand betreiben zu müssen.

In diesem Sommer fällt auf, dass in den Mittelständen der Mittel- und westeuropäischen Länder die Lektüre politischer Bücher eher die Ausnahme darstellt. Wenn Politik ein Thema ist, dann findet es in den zunehmend banaler werdenden Magazinen statt. En vogue sind nach wie vor skandinavische Autoren, die mit einer zumeist großen Akribie über die Details von Verbrechen berichten, die im Dutzendplagiat vorliegende Einführung in den mittelständischen Sado-Masochismus und historische Romane, die die steinigen Wege der Erkenntnis romantisieren. Bei Amerikanern ist es etwas anderes, dort existiert seit einiger Zeit eine Sorte Literatur, die die Neudefinition der Identität zum Thema haben, während seit dem 11.September 2001 eine Thriller-Literatur in puncto Terror und Terrorbekämpfung den Markt überflutet, der das Ausmaß der wahren Traumatisierung nur ahnen lässt.

Die Sommerlektüre hierzulande lässt vermuten, dass sich der Mittelstand nach mehr Aufregung sehnt, sich aber nicht traut, eher satt und gelangweilt, aber ohne Courage ist, während die USA nach der Definition einer neuen Rolle lechzen und nach wie vor von Albträumen verfolgt werden, was die eigene Sicherheit betrifft. Erkenntnisse vom Strand.