Heinrich, ein so genanntes Original in meiner Heimatstadt, pflegte, wenn die meisten bereits schliefen, durch die leeren Straßen zu ziehen und laute Gespräche mit sich selbst zu führen. „Siehst du all die Sternlein stehen, oben dort am Firmament?“ war einer der Sätze, die er immer wiederholte. Aber er beschränkte sich nicht darauf. In die bekannte Struktur seiner Ausrufe mischte er immer wieder hoch brisante, ja politische Aussagen ein, die es in sich hatten. Dann konnte schon mal die Frage kommen „Und wen hat der Führer mit einem so schönen Auftrag bedacht?“. Wer damit gemeint war, das wusste jeder, denn es handelte sich um einen Fabrikanten am Ort, der sehr schnell seine Produktion auf kriegstaugliches Material umgestellt hatte. Aber nach einer solchen Aussage kam dann wieder ein Satz wie „Machorka! Machorka Jungs, das befreit die Seele!“ Dabei handelte es sich um russische Zigaretten, wenn man von der Brisanz absieht, dass Heinrich das wohl von den russischen Kriegsgefangenen wusste, die zu Kriegsende in besagter Fabrik arbeiten mussten.
Das Schicksal Heinrichs hat sich mir nie geklärt. Ich wusste, er hauste in einer alten Lagerhalle. Alle kannten ihn, und er gehörte einfach zum Stadtbild. Aufgrund seiner nächtlichen Ausrufe konnte man schließen, dass er über Bildung verfügte und gesellschaftliche Zusammenhänge durchschaute. Was ihn aus der Bahn geworfen hatte, darüber gab es nie Auskünfte. Aber es ist sicherlich keine Spekulation, die zu weit geht, dass es etwas zu tun gehabt haben muss mit Faschismus und Krieg. Später, als wir uns einmal trauten, Heinrich direkt anzusprechen, ließ er mehr seiner Geisteskraft aufblitzen, aber immer, wenn wir dachten, wir hätten ihn in einem rationalen Dialog, zog er sich blitzschnell auf das Sonderbare zurück und begann zu deklamieren: „Jedes Seelchen, sehnt sich nach nem Sternchen, oh Baby, das wird dir der Herr doch noch gewähren! Machorka, Towarischi!“
Heinrich war nicht der einzige dieser Art. Da gab es noch Arthur, der nachts über den Friedhof lief und heulte wie ein Hund. Sein Schicksal war jedoch den meisten Mitmenschen klar. Er hatte die zwölf Jahre der Diktatur in KZs überlebt, weil er zufällig einen seltenen Nachnamen trug, den auch eine Nazi-Größe hatte. Das hatte ihn immer wieder vor der Exekution bewahrt, aber nicht am Gesamtschicksal. Und dann war da noch Gras Grün, der immer alte Zeitungen sammelte, um sie dann zum Verkauf anzubieten, als wären es neue. Von bürgerlichem Namen hieß er Valentin und war Verleger gewesen, bis sein Besitz arisiert wurde. Wieso er immer noch oder wieder in der Stadt war und noch lebte, lässt sich nur vermuten. Sicher ist, dass einige Bauern aus dem Umland jüdische Mitbürger über Jahre vor dem Zugriff durch die Nazis versteckt hatten. Da war auch ein später sehr bekannter Mann dabei, deshalb wurde diese Tatsache bekannt und dokumentiert. Die Bauern nannten ihn Männken Spiegel, er war Viehhändler gewesen und allein die Tatsache, dass sie ihm halfen, war ein Sachlage ins Gesicht derer, die gerade die jüdischen Viehhändler so verunglimpft hatten.
Wenn ich die Erinnerung bemühe, dann fallen mir immer mehr Personen und Dinge ein, die dazu geeignet sind, im eigenen, kleinen Mikrokosmos nach den vielen Indizien zu suchen, die ein Geschichtsbild ausmachen. Ich möchte dazu ermuntern. In die eigene Erinnerung zu schauen. Die Welt liegt im Detail!
