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Russisches Roulette?

Das Spiel ist so einfach wie tödlich. Man schiebt nur eine einzige Patrone in die Trommel, lässt diese einmal um sich selbst rauschen und klick. Dann steht die Chance Eins zu Sechs. Nichts Genaues weiß man nicht. Der Revolver geht reihum und mit jedem Leerklick erhöht sich die Chance für den Nächsten, der abdrückt, zu einem Volltreffer. Entstanden ist das tödliche Spiel in Offizierskreisen des zaristischen Russlands, als man nach heutigen Maßstäben zumeist durch Spielschulden, Reputationsverlust und Ehrangelegenheiten in der Lösung solcher Fälle sehr archaisch unterwegs war. 1000 Rubel sind kein Geld, eine Flasche Wodka ist kein Getränk und ein Jahr ist keine Zeit. Das war die Disposition dieser Kreise bei Mütterchen Russland, als sie das im wahren Sinne des Wortes tolle Spiel des russischen Roulettes erfanden.

Die Geschichte ist eine hämische und intrigante Ziege. Denn sie führt die Gattung immer wieder an die eigenen Grenzen, indem sie ihr verdeutlicht, wie borniert, wie unfähig zu lernen und wie wenig zivilisiert sie ist. Das macht dieses Scheusal dann auch noch mit einer sarkastischen Geste. Aber vielleicht ist es genau das, was die Spezies braucht, um ihre eigene Unzulänglichkeit zuweilen zu begreifen.

Vor dem Hintergrund des großen Lernfeldes der deutschen Geschichte sollten eigentlich Subjekte unterwegs sein, die aus dem kollektiven Helter-Skelter im Namen der Deutschen gelernt haben. Und das Frivole an der Lehrstunde, die uns die Geschichte in diesen Tagen liefert, ist, dass sie ausgerechnet das russische Roulette als Setting gewählt hat, dem die westliche Diplomatie während der Krise um Ukraine und Krim folgt wie ein Trottel dem Eiswagen. Denn genau mit einer einzigen Patrone bewaffnet liefen die Vertreter des Westens in die Wirren um den Maidan in Kiew, suchten sich Verhandlungspartner, die keine waren und Berater, die das Land nicht kannten, um einen Übergangsplan auszuhandeln, der die Halbwertzeit einer Frikadelle hatte. Das war der einzige Schuss im Magazin, seitdem steht der ungelenke Diplomat völlig entrüstet vor laufenden Kameras und feuert einen Leerklick nach dem anderen ab. Das Spiel ist längst aus, bevor es die Novizen auf dem roten Teppich bemerkt haben. Das russische Roulette lief umgekehrt und keiner hat es bemerkt.

Sie hätten wissen müssen, dass die Ukraine ein Land mit zentrifugalen Kräften ist, sie hätten wissen müssen, dass die Insel Krim immer seit dem späten 18. Jahrhundert russisch war, bevor Chruschtschows Nikita 1954 im Wodkarausch das Inselchen seiner geliebten Ukraine vermachte, was keine Rolle spielte, weil alles im Reich der Sowjetunion bis zu deren Implosion zu Ende des letzten Jahrtausends blieb. Dann war die Krim plötzlich Teil einer eigenständigen Ukraine, und ob das im Sinne des Völkerrechts war, ist sehr zu bezweifeln. Sie hätten sich zudem nur daran erinnern müssen, was die Deutschen gelobten, als die Sowjetunion großmütig ihr Einverständnis zu deren Wiedervereinigung gab, nämlich nicht den Fehler zu machen, von Triumphalismus getränkt dem russischen Bären mit nur einer Kugel auf den Pelz rücken zu wollen.

Aber was will man machen? Wer nicht lernen will, dem gibt diese Megäre von Geschichte immer wieder Lektionen zu kauen, die nicht schmecken. Und irgendwann ist es das Publikum auch leid, sich immer wieder diese bornierten, untalentierten Darsteller anzusehen, die die Morgengabe des Weltgeistes ausschlagen wie eine lästige Offerte von Straßenhändlern. Wer nicht lernen will, dem brennen die Handflächen. Zu Recht. Das Mitleid bleibt aus.

La Comédie Humaine

Die Deutschen sind es, die sich in ihrer Geschichte mehr als abgemüht haben, die Welt durch ein jeweiliges System erklären zu wollen. Das lag nicht an ihrem Genius, wie manche gerne zu glauben bereit sind, sondern an ihrem nahezu genetisch nachweisbaren Dogmatismus und einer atypisch verlaufenden Beweisführung der Aufklärung. Der erste und allumfassende Versuch, die Welt und ihre Funktionsweise zu erklären, ist die monotheistische Religion. Das Christentum in Europa und Deutschland reklamierte selbstverständlich in seiner Blüte die Exklusivität der Weltdeutung. Und als es an der Zeit war, die Welt neu zu denken, weil das Denken selbst systematischer wurde, da war es Luthers Reformation, die das Himmlische irdischer machte und die Verantwortung des Menschen vergrößerte, aber das inhärente System der Welterklärung blieb seinem Wesen nach erhalten.

Was folgte, war die so genannte klassische deutsche Philosophie, ob Fichte oder Feuerbach, Schelling, Kant oder Hegel, sie alle entliehen den holistischen Interpretationsanspruch auf ihr eigenes System, bei dem nichts ausgespart blieb. Das entwickelte sich so pathologisch, dass bis in die deutsche Bürokratie hinein nie eine Toleranz zugelassen wurde, die auch nur eine Erscheinung des Lebens der Deutungshoheit des Systems entgleiten ließe. Einmal im System, immer im System.

Heute, in einem neuen Zenit der Komplexität, erscheint das alles doch sehr verwegen, wiewohl es keine Revision dieses Anspruches gibt. Nirgendwo auf der Welt ist die systemische Regelungs- und Erfassungsmanie so ausgeprägt wie hier und nirgendwo ist die Laune so schlecht, weil jede Abweichung den Ertrag verdirbt. Politisch interessant hingegen ist der aus dem sakrosankten Holismus abgeleitete Aberglaube, dass alles, was menschliche Kreaturen so anstellten, doch eigentlich durch eine systemische Reflexion in Bewegung gesetzt worden sein müsse, weil sonst doch alles keinen Sinn mache. Nur: Es ist nicht so. Auch die Deutschen, ob sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, sind triebgesteuerte Wesen, die nicht immer eine Religion, ein philosophisches System oder eine Verwaltungsrichtlinie im Kopf haben, wenn sie eine Türklinke herunterdrücken, ein Schnäpschen kippen oder von einem sexuellen Kontakt träumen. Das Gräuel eines jeden Gedankensystems herrscht auch hier, im Homeland des puristischen Geistes: Es menschelt überall.

Vielleicht sollten wir doch in vielerlei Hinsicht dieser Erkenntnis einige praktische Konsequenzen folgen lassen und die Tatsache einfach anerkennen. Die Aufklärung hatte auch zur Folge, dass die Zwangsjacken entsorgt wurden. Wenn heute auch unaufgeklärte Menschen sich weigern, diese wieder anzuziehen, sollte das nicht verärgern. Das Recht auf unreflektierten Irrtum sollten wir nicht so einfach in den Wind schlagen. Denn für manche Existenzen ist der Moment des Untergangs der vielleicht schönste hier auf Erden.

Und vielleicht sollten wir uns einmal, ganz zur Entspannung, der epistemologischen Libertinage in manchen Phasen der französischen Geschichte erinnern, in denen ein Balzac sich die luxuriöse Frivolität erlaubte, wie Welt mit einem immensen Fortsetzungs- und Beziehungsroman zu revolutionieren, ohne gleich von einem System zu sprechen. Mehr noch: Er besaß die Frechheit, das Monumentalwerk auch noch die Comedie Humaine zu nennen. Statt zu glorifizieren und zu maximalisieren miniaturisierte Honoré de Balzac das Gewese um die menschliche Existenz, ohne auch nur in einer Zeile die Deutungshoheit zu verlieren. Was er aber der Ratio des Betrachters hinzufügte war etwas, das allen so unbestechlichen Gedankensystemen abgeht: Er fügte eine Wärme hinzu, die das Seelchen braucht, wenn der Kopf in Kälte erstarrt. Das erzeugt Demut. Und Systeme ohne Demut, die sollten wir uns einfach nicht leisten.

Schatila und Sabra

Manchmal ist die Geschichte gnadenlos. Da wird dann in Zeiten einer gewissen Saturiertheit etwas bewertet, das in seiner Ungeheuerlichkeit gar nicht mehr wirkt. So und nicht anders ist es zu erklären, dass sich heute Wissenschaftler allen Ernstes über Vernichtungszahlen streiten. Das betrifft die Schlachten des I. Weltkrieges ebenso wie die des Zweiten, das betrifft den Holocaust und natürlich auch zeitgenössische Vergehen. In einer Gegenwart, die sich zu oft über numerische Messbarkeit definiert, geht das leicht von der Hand, dokumentiert aber etwas Schreckliches: den Verlust einer Bewertungsfähigkeit jenseits des positivistischen Maßes. Hätte die Historiographie vor unserer Zeit so gedacht wie unser heutiger Zeitgeist, dann wären die Morde an Cäsar oder Lincoln gar nicht erwähnt und als historisch unbedeutend klassifiziert worden, weil sie kein zahlenmäßiges Leid gebracht hätten. Die Bewertung des einzelnen Schicksals hingegen, das Urteil über Recht und Unrecht, das gegen den Strom der Seichtheit steht, setzt etwas voraus, dass man immer noch treffend mit dem Terminus der Courage bezeichnen muss.

In diesen Tagen macht der Tod des Ariel Sharon die Runde, einstmals israelischer Ministerpräsident und vormaliger Feldherr der Armee dieses Landes. In der Würdigung aus dem deutschen Kanzleramt wird von einem großen Politiker und Patrioten gesprochen, den das Land verloren habe. Es versteht sich, dass Deutschland aufgrund seiner Geschichte auch eine besondere Verantwortung gegenüber dem Staat Israel hat. Und es versteht sich auch, dass in vielem die israelische Demokratie unserer heutigen Vorstellung von der Welt eher entspricht als die mittelalterliche Despotie in vielen Wüstenstaaten. Was allerdings nicht geht und jenseits all dessen steht, was wir aus der Geschichte gelernt haben müssten, ist die Unterschlagung einer Tat, die jener Ariel Sharon begangen hat und die Analogien zu der Menschenverachtung und dem Zynismus aufweist, die hier in Deutschland den Holocaust inszenierten.

In einer zugegeben zugespitzten Phase des libanesischen Bürgerkrieges, nach dem Mord des christlichen Führers und Präsidenten Baschir Gemayel, für den viele die militanten palästinensischen Kräfte verantwortlich gemacht haben, gestattete Ariel Sharon auf Rache gesinnten christlichen Milizen in die Stadtteile Schatila und Sabra im südlichen Beirut einzudringen, wo in erster Linie palästinensische Flüchtlinge lebten. Unter den Augen von Sharon und starken Verbänden der israelischen Armee veranstalteten die eingedrungenen Milizen vom 16. bis zum 18. September 1982 ein Pogrom an der Zivilbevölkerung. Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Kindesmord sorgten dafür, dass mehrere Tausend wehrlose Menschen ihr Leben ließen. Ariel Sharon, in den Kondolenzworten der Bundesregierung der große Politiker seines Landes, hätte dieses verhindern können. Stattdessen ließ er die Täter wissen, dass sie nichts zu befürchten haben.

Anhand dieses kleinen Vorgangs aus dem Protokoll des Kanzleramtes wird ersichtlich, wie wenig ernst man zuweilen den Appell an das Lernen aus der Geschichte nehmen kann. Diejenigen, die Krokodilstränen weinen, wenn die Staatsbankette zum Widerstand des 20. Juli abgehalten werden oder sich bei Demonstrationen gegen Nazi-Parteitage todesmutig mit drei Hundertschaften Polizei im Rücken vor fünf Glatzen stellen, hätten ihren Mut beweisen können. Wie schön wäre es gewesen, dem Israel, dem man sich verpflichtet fühlt, zu schreiben, wie schlimm man es hier empfunden hätte, dass ein Politiker aus seinen Reihen den Machenschaften der Monster gefolgt sei, die fast sein Volk ausgelöscht hätten. Das wäre ein Zeichen von Solidarität und Courage gewesen, auf die wir endlich einmal stolz sein könnten.