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8. Mai 1945

Zum Tode Richard von Weizsäckers klang vieles noch ganz anders. Da wurde ein Staatsmann gewürdigt, der einem anderen, neuen Deutschland in der Welt Vertrauen verschafft hatte. Die Schlüsselszene, so die vielen Nekrologen, die Weizsäcker zu diesem Ruf verholfen hatte, war eine Rede seinerseits im deutschen Parlament anlässlich des 8. Mai 1945. Da hatte der von Haus aus Konservative den für ihn und viele anderen Landsleute revolutionären Satz ausgesprochen, der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung gewesen. Und er ließ bei seiner Interpretation keine weitere Deutung zu: Die Befreier waren Amerikaner wie Russen, Briten wie Franzosen. 

Nun, wenige Zeit später, da sich der 8. Mai, der Tag der Kapitulation Deutschlands vor den Alliierten zum siebzigsten Male jährt, treten viele aus den Requisiten und beginnen mit einer eigenartigen Choreographie. Sie üben sich an Figuren, die Analogien herstellen sollen zu dem damaligen historischen Bild. Ziel der Veranstaltung ist es, die Aufstellung der damaligen Kräfte auf die heutige Zeit anzuwenden. Und, welch Wunder, geopolitisch hat sich die Lage grundsätzlich verändert. Die Bösen und durchaus mit den Faschisten zu vergleichenden sind jetzt Putins Russen und die Guten sitzen allesamt im Westen. 

Was da zusammengetragen wird, ist nicht nur wegen der historisch bedenklichen Vergleiche grotesk, wenn die Operation Barbarossa mit der Unterstützung der Ostukraine durch Russland gleichgesetzt oder die Rückholung der Krim via Volksabstimmung mit der Besetzung Sudetendeutschlands durch die Nazis verglichen wird. Noch bestürzender als der Unfug ist die Tatsache, dass sich die renommiertesten deutschen Historiker an diesen unseriösen Übungen federführend beteiligen. Politisch wird damit dokumentiert, wie weit die massenpsychologische Hirnwäsche hierzulande fortgeschritten ist.

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Deutschland war Zentrum des Faschismus. Von ihm gingen der Holocaust wie die Vernichtungsfeldzüge aus. Aus eigener Kraft konnte sich Deutschland nicht befreien. Das hatte viele Ursachen, die Zerschlagung der Opposition und die Gleichschaltung der Presse. Einen historischen Vergleich zu der Barbarei des deutschen Nationalsozialismus gibt es im modernen Europa nicht. 

In der gegenwärtigen Situation existieren sehr unterschiedliche Interessen in Europa. Ebenso herrschen große Unterschiede in der Auffassung nach welchen Werten und Kriterien Staaten aufzustellen sind. Die unterschiedliche Sicht auf das eigene wie das jeweilige andere Staatswesen hat etwas mit einer sehr langen historischen Entwicklung zu tun. Alle europäischen Nationen führen besser, wenn sie sich um die Missstände im eigenen Land kümmerten und gleichzeitig versuchten, auf dem Wege der Diplomatie nach Wegen der Verständigung untereinander zu suchen. Sowohl der beschriebene Blick nach Innen wie der nach Außen hätten so etwas wie die Struktur einer Lehre aus den Verwüstungen des II. Weltkrieges. 

Beides ist leider auf allen Seiten ins Hintertreffen geraten. Es wäre sinnvoll und hilfreich, sich wieder den Lehren zuzuwenden und sich nicht von propagandistischen Slapsticks kaufen zu lassen. Das ist und wäre allzu primitiv. Ein innerer Missstand, dem hierzulande entgegengetreten werden muss, war die Entwicklung der Presse zu einer Claque bestimmter politischer Positionen. Hinzugekommen ist nun, dass wir es mit einer Historikergilde zu tun bekommen haben, die sich am ersten Kapitel der Umschreibung der Geschichte übt. Auch dem gebührt scharfe Kritik. Und indem dieses geschieht, wird auch Kritik an analogen politischen Strukturen in anderen Ländern geübt. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen, oder?

Zivilisation und Fundamentalismus

Bewegungen, die sich gegen den Lauf der Zeit wendeten und sich dabei auf eine eigene Identität beriefen, die zugrunde zu gehen drohte, hat es schon immer gegeben. Bewegungen, die sich beim Lauf der Geschichte gar darauf verstiegen, letzteren wieder rückgängig machen zu können, hat es ebenso gegeben. Ihnen haftet die Erinnerung an, dass ihre Mittel zumeist sehr drastisch waren und dass sie letztendlich alle scheiterten. Das bedeutet nicht, dass diese Bewegungen mit allem falsch lagen, was sie kritisierten. Aber sie lagen falsch mit einer Selbsteinschätzung, die systemisch schon gar nicht mehr haltbar war.

Und vielleicht ist es diese eigenartige Selbsteinschätzung, die dem Massenphänomen des Fundamentalismus gemein ist, egal zu welchem Anlass oder zu welcher Stunde er entstand. Sowohl die christliche Reconquista mit der aus ihr hervorgegangenen Inquisition, sowohl die geheimen wie öffentlichen Terrororganisationen der faschistischen Herrschaft der Neuzeit, als auch die Revolutionsgarden im Iran des Ajatollah Khomeini, als auch die Taliban, Al Quaida und ISIS, sie alle sind der organisierte Ausdruck eines wie immer gearteten Fundamentalismus. Ihre Massenbasis ist und waren soziale Klassen, Milieus oder Individuen, die aus einem bestimmten Beschleunigungsprozess der Geschichte ins Abseits geworfen wurden, obwohl sie noch eine Lebensperspektive vor sich hatten. Was sie erlebten, war zumeist ein Abgleiten ins soziale Aus, eine Ächtung ihres Gedankengutes und ein nicht mehr in die Zeit passendes Verhalten. Was sie verstörte, war die Tatsache, dass genau das, was heute keinen Pfifferling mehr zählte, ihnen gestern noch zu Ruhm und Ansehen und zu einem wirtschaftlichen Auskommen verholfen hatte. Das war dann irgendwann aus ihrer Sicht quasi über Nacht passé. Und dann trafen sie Schicksalsgenossen, denen es ähnlich gegangen war. Und zusammen trafen sie Erklärungsmuster, die die eigene Rolle verklärten und das Neue verdammten. Und schon waren sie der Ansicht, sie könnten das beseitigen, und zwar für immer, was sie bereits selbst beseitigt zu haben schien.

Und genau das ist eines der Wesensmerkmale des Phänomens, das so gerne als Fundamentalismus bezeichnet wird. Es ist der Protest gegen eine Gegenwart, die der verklärten Vergangenheit nicht mehr entspricht. Und es ist der Versuch, die veränderten Lebensbedingungen durch einen Akt der Gewalt wieder rückgängig machen zu können. Bei der Betrachtung dessen, was ihnen fehlt, wird deutlicher, wer sie sind: Es fehlt ihnen die Fähigkeit, Strömungen der Geschichte zu erkennen und zu erklären. Ihnen fehlt die Möglichkeit, sich selbst in einem Prozess der Veränderung von einer anderen Warte aus mit zu betrachten und es fehlt ihnen eine Tugend, die nur aus einer geistigen Distanz zum eigenen Ich entstehen kann: Es fehlt ihnen die Gelassenheit bei der Betrachtung des Unausweichlichen.

Und so ist es hilfreich, beim Aufkommen neuer, vermeintlich neuer Bewegungen den Blick nicht nur auf diese selbst zu richten. Fundamentalisten sind in ihrer Verzweiflung über die Welt kein allzu großes Rätsel. Schwerer ist es nachzuvollziehen, woher es kommt, dass sie sich wie andere so wenig respektieren. Aber spannender und aufschlussreicher ist es, wie die Gesellschaft mit der neuen Form des Fundamentalismus umgeht. Bleibt sie gelassen, handelt aber konsequent, so ist die Prognose erlaubt, dass sie das Zeug hat, den aufgekommenen Fundamentalismus zu überleben. Reagiert sie jedoch hysterisch und begibt sich auf eine destruktive Augenhöhe mit dem Fundamentalismus, so ist sie schnell als ein Bestandteil des Problems zu identifizieren. Diejenigen, die den Fundamentalismus überwinden wollen, sollten sich immer vor Augen führen, dass es weder um Rasse, Gott oder Hemisphäre geht, sondern um die Zivilisation gegen die Barbarei. Da ist letzteres auch für die vermeintlich Guten verboten.

Opfer der Halbwertzeit

Fortschritt ist eine heikle Sache. Nicht nur, dass ihm Vieles, was bewährt erscheint, zum Opfer wird. Nein, auch die Menschen, die mit ihm konfrontiert sind, zerfallen in verschiedene Lager. Zum einen in diejenigen, die ihn aufhalten wollen und zum anderen in jene, die ihm zum Erfolg verhelfen wollen. Das Absurde dabei ist, dass weder das Eine noch das Andere eintritt. Wenn sich etwas ankündigt, ist es da, aber nie in der Reinkultur, in der sich die Idee präsentiert. Je weiter man in der kurzen Geschichte der Menschheit zurückgeht, desto gelassener scheinen die jeweiligen Generationen mit der Frage des Fortschritts umgegangen zu sein. Nicht, dass nicht auch schon in der Antike die Köpfe rollten. Wo neue Ideen aufkommen, da brennt es oft lichterloh und manches Gefühl dominiert dann doch das kalte Räsonnement. Aber, trotz der Tageshitze, irgendwie reflektierten diejenigen, die von uns aus gesehen in weiter Vorzeit lebten, einen immer wiederkehrenden Zyklus an Bestand und Ruin, der sie davon abhielt, hektisch zu werden. Auch nicht, wenn der Fortschritt direkt an die Tür klopfte.

Verglichen mit heute sieht das alles sehr verlangsamt aus, was aber Vorteile hat, was wir alle wissen, seitdem wir uns mit den Vorzügen der Langsamkeit und den Nachteilen des Tempos beschäftigen. Nicht nur gefühlt, sondern auch messbar werden unser Leben und die in unserem Leben stattfindenden Entscheidungen immer hektischer. Es hat nichts mit einer genetischen Entwicklung des Menschen zu tun, sondern mit den Lebensumständen, die er selbst schuf und die ihn nun zu tyrannisieren suchen. Die Dominanz der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass die humane Reflexion an den Rand gedrängt wurde.

 Der Terminus überhaupt, der verantwortlich zeichnet für die Beschleunigung der Lebenswelten ist der der Halbwertzeit. Alles, womit wir mittlerweile in unserem Routinealltag operieren, unterliegt dem Trend der Verkürzung der Halbwertzeit. Jede Erfindung, jede Neuerung und somit jeder Fortschritt basiert auf einer Innovation, deren Wertbestand immer kürzer wird. So ist es keine Seltenheit, wenn eine neue Maschine, ein neues Verfahren oder eine neue Methode schon den Death Letter bekommt, bevor es überhaupt zu Ende gedacht, eingeführt und etabliert wurde. Die betroffenen Menschen macht das nicht nur zunehmend verrückt, sondern es führt sie immer wieder zu der nicht unberechtigten Frage, ob diejenigen, die darüber entscheiden, ob es Fortschritt gibt oder nicht, überhaupt wissen, was sie wollen. Die Antwort kann nur lauten: Meistens Ja und meistens Nein!

Das logische Dilemma, in dem sich eine Zivilisation befindet, die auf den Fortschritt setzt, resultiert aus der Aufgabe der absoluten Dominanz menschlicher und institutioneller Entscheidungen. Nur wenn es Menschen sind, die erstens legitimiert sind und zweitens von dem Zweck getragen werden, ob es nützlich ist und die Gesellschaft weiterbringt, was da eingeführt wird, wird die Eigendynamik der rein technischen Revolution eingedämmt. Die Verselbständigung der technischen Prozesse macht aus den menschlichen Subjekten Gejagte, die mit der Beschleunigung von Wissenschaft und Technik immer fremdbestimmter werden, ohne auch noch die Zeit und Muße dafür zu haben, zu überdenken, ob dieser Trend überhaupt das ist, was sie wollen. Es genügt das Signum des Fortschritts, um sich eine scheinbare Legitimation für das Zeitgemäße zu holen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wer keine Zeit mehr hat zu reflektieren, was er will und was er nicht will, der lebt in grauer Vorzeit.