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Deutsche ohne Gas!

Da sage noch einer, Geschichte sei eine langweilige Materie! Denn manchmal kommt sie daher wie ein von einem Besessenen arrangierter Film, der so abstrus wirkt, dass das zuschauende Publikum ihn für übertrieben, aus der Luft gegriffen und zu weit von allem Wahrscheinlichen entfernt hält. Wer, bitte schön, hätte, auch unter den Siegermächten, im schicksalhaften Jahre 1945 daran gedacht, das mit dem Aggressor Deutschland zu machen, was ihm jetzt, genau gerechnet 77 Jahre später, ins Haus steht? Nein, man hat sich mit Petitessen begnügt, das Land geteilt, erst einmal unbewaffnet gelassen, was später nach der Entstehung neuer Feindbilder wieder aufgehoben wurde. Man hat über einen Agrarstaat räsoniert, man hat die Politiker, die Journalisten und die Pädagogen ausgebildet und zumindest die sichtbarsten Nazis aus dem Blickfeld entfernt. Aber die stärkste Waffe, oder, um es beim Namen zu nennen, das tödlichste Werkzeug der menschen- und zivilisationsverachtenden Tötungsmaschine hat man ihnen belassen. Dass jetzt ausgerechnet das Land, welches in der Folge derer steht, die am meisten unter dem deutschen Größenwahn gelitten haben, nämlich Russland, am sprichwörtlich längerem Hebel sitzt, gehört zu dem abgefuckten Drehbuch, an das sich selbst ein Tarantino nicht wagen würde und nach dem momentan Regie geführt wird. Der Russe dreht den Deutschen das Gas ab!

Dass es nicht ganz so ist, wie es von den in der Verantwortung stehenden Politikern beteuert wird, gehört schon längst nicht mehr zu den Realitäten, über die es sich aufzuregen lohnte. Kalt könnte man es so formulieren: wer seine Politik an Werten orientiert, die er selbst nicht mehr lebt und die Interessen des eigenen Landes ignoriert, der fährt ohne Helm mit einem Kickdown frontal auf eine Wand zu. Insofern ist alles, was da noch kommen wird, der eigentliche Durchhänger des Films, den wir uns gerade ansehen. Denn dass weder die inflationär in die Welt gesetzten Sanktionen noch der eigen Hass auf die eigne industrielle Basis irgend etwas anderes bewirken könnte, als den eigenen Ruin, wissen nur noch diejenigen, die es werden ausbaden müssen.

Das Ensemble, das für dieses Himmelfahrtskommando in der Verantwortung steht, weist allerdings starke Parallelen zu dem kleinen Kreis auf, der die letzten Monate im Ableben des Dritten, Tausendjährigen Reiches im Führerbunker sich neben Opiaten, Morphinen, Tranquilizern und allem, was sonst noch die Sinne trüben kann in einen ultimativen letalen Siegesrausch gesteigert hat. Auch das wirkt übertrieben, aber anders als die Protagonisten in Adolfs letzter Höhle stehen diese Figuren immer wieder einer zunehmend sich die Augen reibenden  Öffentlichkeit zur Verfügung und dokumentieren ihren eigenen Verfall. Wer hätte noch vor einigen Jahren geglaubt, dass einst die höchsten Amtsträger des Landes nicht mehr der deutsche Sprache mächtig sind, dass sie pausenlos Ursache mit Wirkung verwechseln und dass sie mit Parolen aufwarten werden, die Wort für Wort dem Propagandachef des Führers entlehnt sind? Und doch, es ist so, sehen Sie hin und hören Sie es sich an! 

Der Film ist noch nicht zu Ende! Und er ist nichts für schwache Nerven. Diejenigen, die bereits wissen, dass das alles nicht gut ausgehen kann, haben teilweise bereits das Kino verlassen, andere, die noch im Publikum sitzen, haben sich mittlerweile die Lippen blutig gebissen, weil sie es nicht mehr ertragen. Und alles zittert einem ungewissen Ende entgegen.

Nur einer auf den hinteren Rängen johlt unentwegt, wirft sich pausenlos Popcorn in den Rachen und brüllt durch den Saal: Es ist nicht zu fassen! Jetzt nimmt man denen das Gas weg! Genial! Einfach genial!

Dortmunder Gewalt und so genannte Flachzangen

Manchmal ist es sehr einfach, sich eine Meinung zu bilden. Da liegen die Verhältnisse offen und es muss nicht lange recherchiert werden, um zu dem Urteil zu kommen, dass da etwas gehörig falsch gelaufen ist. So geschehen anlässlich des letzten Bundesliga-Heimspiels von Borussia Dortmund gegen Red Bull Leipzig. Da hatten Anhänger der Dortmunder solche von Leipzig gewaltsam angegriffen und einige davon verletzt. Das ist nicht in Ordnung, wie es nie in Ordnung ist. Es steht so im Gesetz und das Gesetz hat seinen Sinn. Punkt.

Festzustellen, dass ordnungswidrig und damit inakzeptabel gehandelt wurde, ist das eine. Darüber hinaus die Delinquenten gesellschaftlich jenseits der zu erwartenden gesetzlichen Strafen kollektiv zu marginalisieren und sogar den gesamten Verein in Haftung zu nehmen, das entspricht nicht dem Willen des Gesetzes. Es deutet darauf hin, dass diejenigen, die sich jetzt im Recht wähnen, nicht identisch mit jenen sind, die für das Recht stehen.

Borussia gegen Red Bull. Der alte Name Preußens, der aus der Zeit stammt, als sich Preußen die westfälischen Kohlegruben einverleibte, gegen eine Kopie der in Südostasien verbreiteten Stimulationsbrause Krating Deng. Wer sich ein wenig für Geschichte interessiert, der kann bereits durch die Gegenüberstellung dieser beiden Namen vermuten, dass es bei der Aggression, die vor dem Spiel zum Vorschein kam, nicht um Fußball ging. Es ging um Geschichte, genauer gesagt um den Tod des Ruhrgebiets, die Globalisierung und die subventionierte Wiedergeburt Leipzigs als wirtschaftsliberale Ost-Metropole. Ob das die Schläger so im Kopf hatten? Ich glaube es nicht, aber sie hatten es im Bauch.

Dortmund gehört zu jenen Städten, durch die vor vierzig Jahren der Leibhaftige geschritten ist und alles zerstört hat, was den Menschen dort Arbeit und Würde gab. Quasi über Nacht verlor die Stadt achtzigtausend Arbeitsplätze. Es war dahin mit der Identität, es war dahin mit einem auskömmlichen Leben. Der Fußball war das einzige Feld, auf dem die Selbstachtung weiter leben konnte. Heute hat sich Dortmund durch ungeheure Anstrengungen einigermaßen erholt. Doch die Erinnerung an dieses dunkle Kapitel wird bleiben. 

Fragt man die Leute dort, so hat die erste Phase der Globalisierung für das Ende von Kohle und Stahl im Ruhrgebiet gesorgt. Die Globalisierung wiederum ermöglichte es Menschen wie dem „Erfinder“ von Red Bull, ungeheure Vermögen anzuhäufen und alles machen zu können, wonach ihnen der Sinn steht. Es bezieht sich auf die Frage, wo man Steuern zahlt, wem man die Revenuen zukommen lässt, die das Unzählbare erreicht haben und wo man gedenkt, etwas aus dem Boden zu stampfen. Dessen eingedenk ist es keine Überraschung mehr, dass auch der Fußballverein Red Bull Leipzig zu einem Symbol des unanständigen Reichtums und der willkürlichen Entscheidung geworden ist. Vor allem aus der Perspektive jener, die da ausgeflippt und gewalttätig geworden sind.

Jogi Löw, der Bundestrainer, der als Schwarzwälder weit weg ist vom brutalen Takt der weltumspannenden Beschleunigung, sprach davon, dass solche Leute nichts im Fußball zu suchen hätten. Und Mehmet Scholl, der in München residiert, nannte die Gewalttäter Flachzangen. Ich tue mich schwer mit solchen Aussagen, weil sie davon ablenken, dass es eine Form der Geschichte gibt, die Menschen zu dem machen, was sie sind. Ja, sie müssen dennoch das verantworten, was sie tun. Keine Frage. Aber so zu tun, als gäbe es keine Ursachen für die Gewalt, als läge es exklusiv an der Degenerierung der Delinquenten, das ist ganz ausgewachsenes Flachzangentum. Historisch gesehen, versteht sich.

 

Beschleunigung bei gleichzeitiger Amnesie

Die Beschleunigung und die damit verbundene Kurzatmigkeit der kapitalistischen Produktion hat Folgen. Langfristig ändert sich das Verhältnis zu Werten generell, wenn diese in der materiellen Welt immer schneller vergehen. Ebenso schwindet die Achtung vor Bestand und Tradition. Alles, was längere Perioden übersteht, geht mit dem Stigma der Langeweile und des Ermüdeten daher. Kein Wunder, dass einer der Slogans, der mit dem Hochstadium der Verwertungsgesellschaft verpaart ist, der des Forever Young ist. Nicht, dass frühere Gesellschaften nicht von der Ewigen Jugend geträumt hätten, die massenhafte und maskenhafte Vermarktung gelang jedoch nur in der Jetztzeit. Die im globalen Vergleich gravierendste Folge der kapitalistischen Akzeleration hat auch etwas mit der Zeit zu tun. Es ist die Beschleunigung des geschichtlichen Denkens bei gleichzeitiger Amnesie.

Die Vorstellung, alles, was im Hier und Jetzt passiert, sei aus sich selbst heraus zu erklären und es sei nicht notwendig, die Entwicklung über längere historische Phasen zu ende zu denken, kann als das Symptom der, nennen wir es, historischen Malaise des gegenwärtigen Abendlandes gelten. Um dieses zu illustrieren und in seiner Dramatik deutlich zu machen, sei noch einmal die Anekdote erzählt, die keine ist: Henry Kissinger fragte bei der Annäherung Chinas und der USA beim ersten Besuch Nixons in China den damaligen Außenminister Tschou En-lai bei einem Bankett, was von der Französischen Revolution und dem mit ihr dahergehenden Sieg des Individualismus halte. Tschou En-lai reagierte schockiert auf diese Frage mit dem Hinweis, das zu bewerten sei noch viel zu früh, das Ereignis liege gerade einmal 200 Jahre zurück.

Im Kontext der heutigen Diplomatie und der mit ihr aufkommenden Fragen ist das von dem chinesischen Außenminister dieser Zeit formulierte historische Bewusstsein eines, das in der westlichen Tagespolitik keine Rolle spielt. Wer einen Einblick in die Planung längerer historischer Zeiträume aus westlicher Perspektive bekommen will, muss sich schon in die Labore der amerikanischen Think Tanks begeben. Das, was dort allerdings zu sehen ist, ist imperial und nicht für europäische Augen bestimmt. Ansonsten ist es mit dem Visionären, dem das Stigma des Unseriösen anhaftet, nicht gut bestellt. Dabei täte allem, was zum Beispiel innerhalb der EU geschieht, ein Verhältnis zu einer weitergemachten Zukunft mehr als gut.

Mit dieser Geschichtslosigkeit korrespondiert die unaufhaltsame Auflösung des historischen Bewusstseins bei jenen, die durch Wahlen ein politisches Mandat in die Hände derer geben, die gerne wegen allem Möglichen kritisiert werden, ohne die notwendige Wechselwirkung mit den Auftraggebern zu reflektieren. So, wie die demoskopischen Institute es immer wieder dokumentieren, besteht gar kein Wunsch nach historischer Dimension. Das liegt unter anderem daran, dass das Fach Geschichte in den Schulen kaum noch eine Rolle spielt und innerhalb der Familien das Narrativ des Erlebten faktisch nicht mehr existiert. Vorbei die Zeiten, als Großeltern oder Eltern am gemeinsamen Tisch noch erzählten, wie ihnen die Weltgeschichte konkret widerfahren ist oder unter welchen Produktionsbedingungen sie ihr Dasein fristen mussten. Die Einen können nicht mehr erzählen, die Anderen wollen nicht mehr hören.

Doch wer glaubt, dass der Zustand der kollektiven Amnesie ein weltweites Phänomen ist, der wird gerade in diesen Tagen eines Besseren belehrt. Nicht nur in China, in vielen anderen Regionen der Welt sind die Erlebnisse von mindestens einem halben Jahrtausend im kollektiven Gedächtnis festgebrannt. Es sind die Erfahrungen mit dem Kolonialismus, der das Handeln vieler Länder treibt, die seit gerade einmal fünfzig bis siebzig Jahren unabhängig sind. Weil der Westen sich nicht mehr erinnert, scheint er nicht zu verstehen.