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Kulturelle Leistung und das Prinzip der Frivolität

Mario Vargas Llosa. Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst

Mario Vargas Llosa, Politiker, Schriftsteller, Träger des Literaturnobelpreises, Kosmopolit, hat, wie man einem Manne seiner Provenienz und seines Formates nachzusagen pflegt, zur Feder gegriffen und sich mit einem zentralen Thema unserer Tage auseinandergesetzt. Es geht ihm um Kultur und Werte, quasi ein Dauerbrenner seitdem die Welt vom Kommunikationszeitalter spricht. Zwar handelt es sich nicht um einen Text aus einem Guss, sondern um die Komposition verschiedener Essays und Zeitungsbeiträge für das Madrider El Pais, aber die modulare Entstehung spricht eher für Konsistenz als für Eklektizismus. Unter dem Titel Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, wurden Texte aus dem letzten Jahrzehnt zusammengestellt. Und wie alles, das Qualität für sich reklamieren kann, polarisieren diese Texte.

Die Einleitung zu Vargas Llosas Reflexionen bildet ein Kapitel mit dem Titel Die Kultur des Spektakels. Das Wortspiel ist gewollt, weil der Bildungsbürger damit die Aporie unseres Zeitalters schlechthin charakterisieren will, denn das Spektakel schließt Kultur aus. Zentrale These ist die Erosion der Hochkultur durch die vermeintlichen Ansinnen ihrer Demokratisierung. Doch was unter dem Label Demokratisierung steht, so Llosa, ist die Zerstörung der Literatur durch die Bilderflut und die Demontage der kulturellen Kompetenz durch die Nivellierung der Befähigung, sich mit Anspruchsvollem auseinandersetzen zu können. Ersetzt wird der Anspruch durch das Spektakel und die Etablierung des Prinzips der Frivolität.

In den folgenden Kapiteln, die sich mit für jede Gesellschaft zentralen Themen wie Ethik, Erotik, Kultur, Politik und Macht sowie der Religion befassen, dekliniert Vargas Llosa seine These durch. Anhand zahlreicher Beispiele, die vom Kopftuchverbot in Schulen, über Onaniekurse in südspanischen Schulen bis hin zu sektiererischem Gedankengut in der abendländischen Zivilgesellschaft gehen, macht Vargas Llosa auf Tendenzen aufmerksam, die der scheinbar modernen und demokratischen Welt entspringen, aber letztendlich in vielem an vor-aufklärerische, obskure, rückständige und barbarische Erscheinungen der Geschichte erinnern. Diese Erkenntnis ist alles andere als revolutionär, aber die Beweisführung, die zu ihr führt, besticht durch ihre handwerkliche Güte und die Perspektive eines Bildungskanons, der im Zeitalter des Google- und Wikipedia-Analphabetismus nahezu museal anmutet.

Vargas Llosa huldigt hinsichtlich der Hermeneutik kultureller Werte einem Zugang des Geheimnisses und des Zaubers. Das, was als aufklärerisch galt und Max Weber die Entzauberung der Welt nannte, führt nach Vargas Llosa zur Erkaltung der Gemüter und zur Pornographisierung des Privaten. Das klänge befremdlich, wenn es in der Diktion der Anti-Aufklärung geschrieben wäre, was es aber gerade nicht ist. Vargas Llosa entpuppt sich als ein glühender Verfechter des okzidentalen Humanismus und der Teilhabe an dem hohen Gut der Kultur. Er wehrt sich aber vehement gegen die Barbarisierung der Kultur durch ihre Verflachung. In der Sinnentleerung von Kultur und Ethik entdeckt er den Wirkungsmechanismus der Mystifikation: Indem alle dabei sind, ohne sich anstrengen zu müssen, verlieren sie die Wertschätzung gegenüber der Leistung und Hochleistung. Die Diktatur der Barbarei hat nichts zu tun mit Demokratie. Auch und gerade die Demokratie beinhaltet Leistung und Verfeinerung. Eine Botschaft, die quer steht zur Tendenz der Nivellierung und Entmündigung. Deshalb ist die Lektüre dieser Essays dringend zu empfehlen.

Die Transparenz und das kritische Subjekt

Dass Geschichte nie linear verläuft, bewies eine Kuriosität aus dem Osten. Ausgerechnet dort, wo man von einer Diktatur, ja einem Monolithen sprach, wurden zwei Begriffe geformt, die nicht nur in einem kausalen, sondern in einem kulturellen Zusammenhang stehen und die Welt verändern sollten: Glasnost und Perestroika, Transparenz und Umgestaltung. Michail Gorbatschow, der Mann, der aus den Reihen der mächtigen, gefürchteten KPdSU kam und ihr erster Mann wurde, fachte mit diesen beiden Begriffen ein Feuer an, das die Machtstrukturen der alten KP in lodernden Flammen aufgehen lassen sollte. Die Konstitutionsprinzipien der finsteren Hierarchie, Obskurantismus und eherne Gesetze der Macht, lagen mit Glasnost und Perestroika auf dem Schafott. Der Rest ist Geschichte. Die Sowjetunion existiert nicht mehr und mit ihrem Ende fühlte sich der Westen als die überlebende und damit überlegene Macht. Auch das ist mittlerweile relativiert, nicht nur durch das Schwächeln des ungezügelten Finanzkapitalismus, sondern auch durch das Erstarken eines gar nicht mausetoten Russlands und durch die ungeheure wirtschaftliche und politische Dynamik im pazifischen Raum.

Der kapitalistische Westen, der nach eigener Selbstwahrnehmung mittlerweile vom Industrialismus über die Dienstleistungsgesellschaft im Kommunikationszeitalter angekommen ist, sucht einmal wieder nach Prinzipien der sozialen Kohärenz. Diese wiederum findet er in den Konstitutionsprinzipien der Kommunikation selbst: Transparenz schafft nicht nur Vertrauen, sondern stellt auch eine Atmosphäre gemeinsamer Intentionalität her und bewirkt eine gesellschaftliche Gestaltung des Daseins. So zumindest die Theorie. Was das Herstellen von Transparenz anbetrifft, so ist diese Maxime nahezu zu einer Doktrin verkommen, die als Wert an sich zelebriert wird und in ihrer Exklusivität eher Frivolität als politischen Sinn verkörpert. Alles, was quasi als wichtige Information ins Netz gestellt wird, kommt daher unter dem Diktum einer für politische Entscheidungen unabdingbaren Voraussetzung.

Bei näherer Betrachtung ist das zumeist nicht der Fall. Selbst die unter großem Getöse kommunizierten Massendaten durch WikiLeaks haben nichts Neues hervorgebracht, das von politischer Virulenz gewesen wäre. Befeuert wurde die Sucht nach Gossip und das revolutionärste an Erkenntnis, welche die demokratische Urkraft der Massengesellschaft erreichte, waren Formulierungen von einzelnen Mitarbeitern des diplomatischen Korps, in denen Politiker A als Faulpelz und Madame B als begriffsstutzig oder bieder beschrieben wurden. Ob Menschen ihr Leben lassen mussten, weil die Position ihres Stützpunktes in Krisengebieten dieser Welt der Öffentlichkeit preisgegeben wurde, wissen wir nicht. Auf jeden Fall wäre es ein gerne in Kauf genommener Kollateralschaden auf dem Karriereweg des Julian Assange gewesen, dessen soziale Kompetenz amöbenhafte Dimensionen dokumentiert.

Die Ausgangsthese einstiger sowjetischer Altkommunisten, dass Offenheit und politische Transparenz zum Willen politischer Umgestaltung führen muss, trifft anscheinend nicht auf alle Gesellschaften gleichermaßen zu. Zumindest in der Bundesrepublik sind viele Veröffentlichungen, die wir der medialen Permissivität des Kommunikationszeitalters verdanken, nicht dazu prädestiniert, politische Veränderungen nach sich zu ziehen. Die Enthüllung der Massenkorruption im bayrischen Landtag zum Beispiel, wo 79 der insgesamt 187 Abgeordneten direkte Verwandte eingestellt haben, führt nicht zur Aufhebung der Immunität, Neuwahlen etc., sondern sie wird hingenommen als eine systemimmanente Funktionsstörung. Von einer eigenen politischen Gestaltungskraft geht anscheinend niemand mehr aus. Eher traut man einer Modifikation der steuernden Algorithmen. In einer Welt voller Objekte sucht man vergeblich das handelnde Subjekt. Da hilft auch keine Transparenz.