Schlagwort-Archive: Friedrich Dürrenmatt

Das Dilemma von wissenschaftlicher Erkenntnis und Macht

Als Friedrich Dürrenmatt den Zweiakter „Die Physiker“ 1961 niederschrieb, blickte er auf zwei Weltkriege zurück, in denen die Verwissenschaftlichung und Industrialisierung des Tötungshandwerks ungeahnte Ausmaße angenommen hatte. Im I. Weltkrieg war es der massenhafte Einsatz von Giftgas, und im II. Weltkrieg war der ebenfalls mit Gas vorangetriebene Holocaust betrieben worden und das Tötungsfestival hatte mit den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki ein weiteres dämonisches Ende genommen. Die Frage, die sich besonders in Bezug auf die Entwicklung der Atombombe in den Vordergrund gedrängt hatte, weil bei ihr Wissenschaftler wie Einstein und Oppenheimer – ihrerseits bekennende Humanisten – beteiligt gewesen waren, wie der Drang nach Erkenntnis mit Moral und Ethik vereinbar sei. An Brisanz hat das Werk, das Dürrenmatt aufgrund der skurril gestalteten Handlung als Komödie freigegeben hatte, nichts eingebüßt. Es geht, ob es Genforschung, Biotechnologien die Virologie betrifft, immer wieder um die Frage, was darf ein Wissenschaftler und was darf er nicht? Oder, anders herum, kann er oder sie denn anders?

In den „Physikern“ bietet sich dem Publikum eine absurde Situation. Ein genialer Physiker flüchtet, da er um die Brisanz seiner Erkenntnisse weiß, in den Wahnsinn und begibt sich in ein privates Sanatorium, wo er es allerdings nicht unterlässt, weiter zu forschen und dem Treiben eine psychopathologische Note verleiht, indem er vorgibt, alles von König Salomo eingeflüstert zu bekommen. Ihm auf den Fersen sind jedoch zwei weitere Insassen und Physiker, die, instrumentalisiert von zwei Geheimdiensten verfeindeter Länder, an seine Erkenntnisse herankommen wollen. Die Groteske endet mit dem Coup, dass die Sanatoriumsleitung, eine reiche, bucklige Schweizerin, ihrerseits alles durchschaut, die Forschungsergebnisse des den Wahnsinn vortäuschenden Wissenschaftlers heimlich kopiert und als Wirtschaftsimperium  vermarktet und alle drei Insassen als Häftlinge schachmatt setzt.

Die Zeugnisse, die die Beteiligten zu ihrer Motivlage ablegen, dokumentieren das Dilemma, in dem Wissenschaft steckt. Es erweist sich als Illusion, dass Wissenschaft sich bewusst vor Erkenntnissen zurückhalten könnte. Es ist ein Faktum, dass es immer wieder die Macht ist, die aus wirtschaftlichen oder politischen Interessen – und zumeist erfolgreich – es darauf anlegt, die Erkenntnisse auszubeuten und zwecks Herrschaft zu instrumentalisieren. Das sind verstimmende und niemals beruhigende Einsichten, die auch auf der Folie einer in einem Sanatorium spielenden Komödie nichts an ihrer Bedrückung einbüßen. 

„Die Physiker“ wurden am 21. Februar 1962 im Schauspielhaus Zürich uraufgeführt. Im Oktober des selben Jahres ereignete sich die Kubakrise, bei der die Welt knapp an einem Atomkrieg zwischen der damaligen Sowjetunion und den USA vorbei schlitterte. In dieser Zeit beschrieb Dürrenmatt das Dilemma von wissenschaftlicher Erkenntnis und deren Nutzung zur Destruktion.  

Die Fragestellung ist geblieben. Das Dilemma auch. In einer Zeit, in der immer weniger von freier Wissenschaft und immer öfter von Auftragswissenschaft gesprochen werden muss, erscheint das Dilemma noch größer als zur Zeit der Entstehung des Bühnenstücks. Allein die Abwägung, was der Einsatz der modernen, wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Wohle von Mensch wie Natur bewirken könnte und zu was sie tatsächlich gebraucht werden, verursacht mehr als eine düstere Stimmung. Daher ist es mehr denn je erforderlich, das Thema zu reflektieren und in der politischen Diskussion am Leben zu erhalten Es stellt sich mehr denn je nicht mehr die Frage, was Wissenschaft kann, sondern wem die Welt gehört! 

Krise IX: Die Legitimation von Politik durch Wissenschaft

Die gegenwärtige Krise verstärkt eine Tendenz, die mit der Fridays For Future-Bewegung eingesetzt hatte. Es geht um die Legitimation von Politik mit dem Verweis auf die Wissenschaft. Das wohl wichtigste Argument dieser Bewegung sind Aussagen von Wissenschaftlern zum Klimawandel. Unabhängig von der notwendigen Betrachtung von Wissenschaft fiel auf, dass dieser Verweis bei weitem nicht auf so offene Ohren stieß wie die folgende Welle mit der Pandemie. Da griff die Politik schleunigst zu, zu jeder politischen Entscheidung, die getroffen wird, werden die Politiker von nickenden Virologen und Epidemiologen umrahmt. Anscheinend ist in diesem Fall auch die Akzeptanz derer, die die politischen Entschlüsse mittragen sollen, uneingeschränkt vorhanden.

Aufgrund dieser Erfahrung ist zu erwarten,  dass sich die Politik in Zukunft vermehrt das Testat der Vernunft und Seriosität aus dem Lager der Wissenschaft holen wird. Wäre die Wissenschaft so, wie sie vielen erscheint, könnte das hilfreich sein. Doch so heilig ist die Wissenschaft nicht, auch sie hat in den letzten Jahrzehnten sehr unter Sparprogrammen einerseits und Privatisierung andererseits gelitten. Längst kursieren Begriffe wie Auftrags- und Gefälligkeitswissenschaften, die Zustände beschreiben, in denen die Wissenschaft sich dafür hergibt, die notwendigen Botschaften derer, die als Geldgeber in Erscheinung treten, mit dem Instrumentarium der eigenen Disziplin zu untermauern. 

Bei den vielen Zitaten aus den Wissenschaften, mit denen wir bereits heute konfrontiert werden, empfiehlt es sich, zunächst einmal zu fragen, aus welchem Haus die Untersuchung, auf die man sich beruft, tatsächlich kommt. Meistens sind es private Institute oder Stiftungseinrichtungen, während staatliche Universitäten relativ selten für politische Legitimation zur Verfügung stehen. Ein weiteres Indiz ist der Umgang mit unterschiedlichen Auffassungen. Selten wurden Wissenschaftler derartig demontiert, wie in diesen Zeiten. 

Was als typisch für die Inquisition galt, ist durchweg gesellschaftsfähig geworden. Man sehe sich alle an, die sich der offiziellen Meinungsversion als Wissenschaftler nicht anschließen. Über Nacht sind Menschen, die bis dahin eine unangefochtene professionelle Reputation genossen, mit dem Label des Verschwörungstheoretikers, des Scharlatans oder des Psychopathen versehen.

Andererseits sei der kleine Hinweis auf den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages erlaubt. Selbiger ist gerade in der jüngsten Zeit immer wieder zu Ergebnissen gekommen, die der Politik der Bundesregierung diametral entgegenstanden. Der Verweis auf die Wissenschaft bleibt in solchen Fällen aus. Es sollte allen klar sein, dass die Wissenschaft instrumentalisiert wird, auch wenn die Legitimation von Politik durch die Wissenschaft punktuell vernünftig und sinnvoll sein kann. Generell, als politisches Paradigma, ist es ein Desaster.

In Erinnerung ist das Bild, das Dürrenmatt einst von einem Physiker zeichnete, der endlich die Formel für die H-Bombe gefunden hatte und müde, aber glücklich in seinen Sessel sackte. Dann ließ er den Blick schweifen und entdeckte, dass er während der fieberhaften Forschungsarbeit vergessen hatte, seine Pflanzen zu gießen. Sie waren eingegangen. Als er das realisierte, entlockte es ihm eine Träne. 

Es sollte im Kopf sein, dass das Interesse von Wissenschaft nicht kongruent sein muss mit dem, was politisch vernünftig ist. Und es sollte immer bewusst sein, dass die größten Verbrechen der Menschheit von Wissenschaftlern begangen wurden, denen man zu „Forschungszwecken“ Macht gab. Auschwitz wäre ohne ihr Zutun nicht so möglich geworden und, als der Krieg vorbei war, sorgte der amerikanische Geheimdienst dafür, dass man diese Kriminellen in die USA holte, um den militärisch-industriellen Komplex aufzubauen. 

Harmlos ist die Legitimation von Politik durch die „Wissenschaft“ also nicht. Auge, sei wachsam!