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Thymos, Identität und Gesellschaft

Francis Fukuyama. Identität

Ja, Francis Fukuyama schrieb vor dreißig Jahren davon, dass mit Ende des Kalten Krieges gleichzeitig das Ende der Geschichte erreicht sei. Was damals als eine Form des Triumphalismus des Westens nicht zu Unrecht verurteilt wurde, relativiert er heute, indem er sich auf eine hegelianische Kategorie berufen hätte. Sei es drum. Nichtsdestotrotz hat er sich nun mit einem Phänomen befasst, das weltweit um sich greift und nicht nur die von ihm favorisierten liberalen Demokratien erschüttert. In einem lesenswerten Buch, das den schlichten Titel „Identität“ trägt, setzt er sich mit dem Phänomen in anregender Weise auseinander. Dass der deutsche Subtitel „Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ wie so oft die Intention des Autors auf den Kopf stellt, ist keine neue Erscheinung. Im Original heißt es „The Demand for Dignity and the Politics of Resentment“. Die Erwähnung mag als erste Ehrenrettung dienen. 

Fukuyama beschreibt die Entwicklung der letzten dreißig Jahre als eine Rückkehr zu der antiken Kategorie des Thymos, jenem Streben nach Anerkennung und dem Anspruch auf Anerkenntnis der individuellen Besonderheit durch die Gesellschaft. Gepaart wurde diese Entwicklung von ebenfalls aus der platonischen Philosophie stammenden komplementären Erscheinungen wie der Isothymia, dem Streben als gleichwertig anerkannt zu werden, und der Megalothymia, dem Wunsch, als anderen überlegen anerkannt zu werden. Was zunächst als historisch weit entfernte Rabulistik erscheinen mag, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als brandaktuell.

In nahezu allen westlichen Gesellschaften hat der Kampf gegen Diskriminierung zu einer Fokussierung auf die Identität der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen geführt, in ethnischer und religiöser Hinsicht wie in Bezug auf die sexuelle Orientierung. Diese Bewegung, die von ihrem Ursprung her als legitimer Wunsch nach Freiheit vom Ressentiment gesehen werden muss, hat eine Eigendynamik entwickelt, die in vielen Fällen einen Gegenreflex zur ursprünglichen Intention hervorgerufen hat. Aus dem Anti-Diskriminatorischen wurde eine neue Art der Diskriminierung, diesmal gegen die, deren Vorfahren die Ursache für die ursprüngliche Diskriminierung waren. 

Die Ausmaße, die diese Eigendynamik in vielen Gesellschaften erlangt haben, führten zu einer Gegenbewegung, die unter dem Slogan „Wir holen uns unser Land zurück“ beschrieben werden können. Abgesehen davon, dass die Dynamik der historischen Entwicklung nie ein Zurück zulässt, versammeln sich hinter diesem Slogan Kräfte, die nicht die Demokratie retten, sondern die antiquierten Verhältnisse restaurieren wollen. In diesem Kontext spricht Fukuyama von links und rechts, Kategorien, die meines Erachtens eher zur Verwirrung als zur Klärung beitragen.

Interessant hingegen ist das Statement, dass Demokratien nicht von der individuellen Spezifik partialer Existenzen, sondern von gemeinsamen, von allen getragenen Identifikationsmustern leben, die jenseits von Ethnie, Religion oder sexueller Orientierung liegen. Wohltuend ist die Perspektive des historischen Betrachters, die Fukuyma einnimmt. Er betrachtet dabei die Analogien wie die Besonderheiten von den USA und Europa, was davor bewahrt, zu vorschnellen, pauschalen Urteilen zu gelangen. Entscheidend ist die Feststellung, dass die Suche nach den Gemeinsamkeiten demokratischen Gesellschaften den Schlüssel zu einer positiven, gestalterischen Perspektive aushändigen. Das Bemühen, die eigene, individuelle oder mikro-soziale Identität könne zu produktiven gesellschaftlichen Entwicklungen führen, teilt er nicht.

Wichtige, staatlich realisierbare Schritte sind das ius soli, d.h. die Definition der Staatsbürgerschaft, die aufgrund der Geburt auf dem Territorium des jeweiligen Landes zubilligt wird und das Prinzip des Laizismus, der Trennung von Religion und Staat. Und, wenn Fukuyama von einer notwendigen Bekenntnis-Ideentität spricht, kommt die Idee von einer Identifikation mit der jeweiligen Verfassung ins Spiel. Von diesen drei Prinzipien sind viele der sich als Demokratien bezeichnenden Länder noch weit entfernt. 

Wer der Überhitzung überdrüssig ist, die die Identitätsrituale zuweilen hervorrufen, kann mit der Lektüre von Fukuyamas „Identität“ zu einem distanzierteren Blick gelangen.

Ein Leben ohne Geschichte?

Ist es vorstellbar? Ein Leben ohne Geschichte? Bei Betrachtung all dessen, was uns täglich in den Gazetten der digitalen Informationsflut entgegen peitscht, sollte davon ausgegangen werden können, dass zumindest bei dem einen oder anderen Ereignis, das die Gemüter erregt, etwas aus dem historischen Hintergrund zur Erklärung hinzugezogen werden sollte. Aber, das muss konzediert werden, wenn es dem eigenen Standpunkt nutzt, dann durchaus, gefährdet es die eigene Bewertung, dann wird die historische Dimension schlicht ausgeblendet. Das könnte enden in einer verzweifelten Schelte der Medien, vielleicht ist es aber auch ein Symptom der Zeit. Neben dem historischen Unwissen, das zweifelsohne überall herrscht, obwohl die Quellen noch nie so leicht zugänglich waren, fehlt oft die Überzeugung, dass durch die Betrachtung der Geschichte etwas erklärt werden könnte. 

Wie dem auch sei: Das propagierte Ende der Geschichte mit dem Jahr 1991, das der amerikanische Politologe Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion propagierte, setzte folgerichtig der Verzicht auf Kenntnis und Deutung der Geschichte ein, zumindest in der allgemeinen, an öffentlichen Schulen zugänglichen Bildung. Heute, in Zeiten der orkanartigen Verbreitung von Schauergeschichten und mystizistischer Weltendeutung und der daraus folgenden Hochkonjunktur von Demagogen, wird diese Lücke zuweilen beklagt. Zumeist, in einer kurzen Atempause zwischen im Staccato aufeinander folgender technokratischer Aktionspläne, um dann, wenn die nächsten Kontrolllampen blinken, wieder in die vertrauten Weisen zu verfallen.

Politisch hingegen ist der Schaden nicht mehr zu beziffern, und er wird noch wachsen. Die politisch Handelnden sind oft in der Abstrusität ihrer Argumentation nicht mehr zu überbieten. Da sind Sätze zu hören, in denen der II. Weltkrieg mit seinem Hauptaggressor und seinen Bezwingern völlig neu geschrieben wird, da wird Großbritannien plötzlich zur Schutzmacht der Demokratie in Hongkong und da wird China als eine traditionell aggressive imperialistische Macht ausgewiesen. In der guten alten Schule, die es selbstverständlich nie gab, da hätte dieses alliterate Geplärre allenfalls zu einer ungenügenden Note, vielleicht aber auch zu einem Verweis verholfen. Heute ertönen diese Dummheiten aus den Mündern oberster Mandats- und Würdenträger. 

O tempora, o mores, könnte man sagen und den Verfall der Sitten beklagen. Aber dem ist nicht so. Es geht um die im kollektiven Herrschaftsbewusstsein zielgerichtet inszenierte Liquidierung der geschichtlichen Kenntnisse, denn sie könnten schnell dazu führen, dass das Handeln der Mächtigen mit Fug und Recht hinterfragt würden und der ganze Unsinn, mit dem die Herrschaft und vor allem seine aggressive Variante nach außen begründet werden, fiele zusammen wie ein Kartenhaus.

Daher ist es notwendig und wichtig, Geschichte als das darzustellen, als das es ist. Als eine Abfolge von Episoden aller möglichen Irrungen und Wirrungen, die sich erklären lassen aus bestimmten sozialen Bedürfnissen, aus archetypischen Mustern von Machtstreben und Machterhalt und als ein Sammelsurium menschlicher Veranlagungen, die, werden sie von bestimmten Strukturen begünstigt, zu voller Geltung kommen. Das ist spannend, das ist bedenkenswert und das regt immer wieder dazu an, sich Gedanken über das Hier und Jetzt zu machen. Das ist nicht viel, aber es recht aus, um dem amöbenhaften Alltagsrausch der täglichen Lichterketten der Bedürfniisse zu entkommen und in die tiefe des Raumes zu schauen. Und, schließlich geht es immer um Raum und Zeit. Dem Schicksal entkommen wir nicht, mögen wir das Geschehene auch noch so gewaltsam ausblenden. Es wird nicht besser, sondern anders. Und daraus muss das Beste gemacht werden.

Gevatter Pauper tobt durch die Straßen des Planeten

Keine drei Jahrzehnte hat es gedauert. Die goldene Zeit, die von dem amerikanischen Politologen Francis Fukuyama in Anspielung auf Hegels Geschichtsphilosophie als das Ende der Geschichte bezeichnet wurde. Zur Erinnerung: Hegel hatte tatsächlich die Vorstellung entwickelt, dass die Triebkräfte der Geschichte dann verlöschen, wenn die Vernunft zu sich selbst gefunden und sich verwirklicht hätte. Fukuyamas grandioser Fehler war die Idee, mit der Vernunft Hegels sei die liberale Marktwirtschaft gemeint gewesen. Wer so in den historischen Dokumenten der Philosophiegeschichte herumschlampt, darf sich nicht beklagen, wenn er selbst später als ein ziemlich einfältiger Propagandist in den Journalen geführt wird.

Zur Ehrenrettung Fukuyamas sei gesagt, dass er keine exzentrisch neue Betrachtungsweise erfunden hatte, denn viele Menschen glaubten nach dem Zusammenbruch der UdSSR, dass sich das wohl bessere Wirtschaftssystem durchgesetzt hätte. Auch diese Sicht war naiv, denn sie klammerte das zentralistische, staatsmonopolistische Treiben aus dem militärisch-industriellen Komplex des Westens aus, aber das ist ja alles Geschichte. Was zählt, ist die Entfesselung der Ideologie des freien Marktes. Keine drei Jahrzehnte ist es her, und die Bilanz regt dazu an, schleunigst über Alternativen nachzudenken und den Lauf der Geschichte wieder anzukurbeln.

Die Statistiken lügen nicht. Ein Blick auf die Verteilung des Besitzes in den Ländern, in denen angeblich die Vernunft zu sich selbst gefunden hat, zeigt sehr deutlich, dass immer weniger Menschen mehr besitzen, als sie und ihre familiären Clans werden jemals verzehren können und nahezu der Rest der Menschheit sich darauf einzustellen hat, dass das Darben kein Ende nimmt und dass die Grundlagen der Existenz in rasantem Tempo zerstört werden. Gevatter Pauper, ein Gespenst aus uralten Zeiten, tobt mit seiner Sense durch die Straßen dieses Planeten und massakriert jeden, der sich ihm in den Weg stellt. Die Armut ist, trotz aller Fortschritte in der Produktion von Gütern, zu der Geisel dieser Tage geworden. 

Es geht nicht um hehre Werte, es geht bei vielen, von denen allerdings die Geschichten in den offiziellen Journalen nicht erzählt werden, um die nackte Existenz. Wer da noch glaubt, denen, die da dem plündernden Pauper zu entkommen suchen, erzählen zu können, dass diejenigen, die da in inszenierter Form hier und da auf die Straße gehen, und nach der Freiheit lechzen, auch in die Fänge Paupers zu kommen, der ist einer Denkweise erlegen, die suizidalen Charakter hat. Noch einmal an alle: es geht ums Überleben!

In Frankreich brach ein Sturm los, der bis heute anhält, als es viele Menschen traf, dass sie nicht mehr den Sprit für ihre alten Mopeds bezahlen konnten, um aus der entlegenen, angeschnittenen Provinz zu ihren prekären Jobs in die Städte fahren zu können. Und jüngst, als geographischer wie thematischer Bogen, sprangen die Menschen in Chile aus ihren Hütten, weil bei vierhundert Euro Mindestlohn bei einem Preis von einem Euro fünfzig für einen Liter Milch die Existenzfrage direkt gestellt wurde. In Frankreich wie in Chile geht es ums nackte Überleben. Und in beiden Ländern, die stellvertretend für viele stehen, in denen das Ende der Geschichte reklamiert wurde und der freie Westen propagiert wird, hat die Politik des Wirtschaftsliberalismus gewütet und den gesellschaftlichen Reichtum noch einmal privatisiert. Mit dem Finden der Vernunft zu sich selbst hat das nichts zu tun. Mit der Gier von Unersättlichen viel. 

Gevatter Pauper kann das Handwerk nur gelegt werden, wenn die Eigentumsfrage erneut gestellt wird. Vielleicht ist das der böse Geist, der aus den Gräbern der alten UdSSR noch weht, aber sobald der Pauper mit seiner Sense diesen Geist wittert, wird ihm richtig mulmig. Und das ist ein gutes Zeichen.