Schlagwort-Archive: forever young

Biden, Putin: Wer alt ist, geht in den Wald?

Es existieren unzählige Geschichten darüber, wie alternde Menschen mit der Gewissheit des näher rückenden Endes umgehen. Wir alle kennen die Erzählungen aus der Literatur über die so genannten Ur- und Naturvölker, in denen sich die Alten in den Wald oder an die Küste zurückzogen, um, mit sich und der Natur im Reinen, das Ende in gewisser Weise zu zelebrieren und niemanden in der weiter werkelnden, umtriebigen Gemeinschaft, in der verschiedene Generationen noch einiges vor sich hatten, zu stören. 

Aus heutiger Perspektive betrachtet sind gerade diese Erzählungen Dokumente aus einer Zeit, in der es weit weniger Wissen, dafür aber umso größere Anteile an Weisheit gab. Denn gerade wir, mit unserer lange gehaltenen Gewissheit, wir beherrschten Technik und Natur, sind immer mehr dem Glauben verfallen, wir lebten ewig oder blieben zumindest für immer jung. Unsere Produktionsweise und unser Marketing haben den Jugendkult zum gesellschaftlichen Paradigma schlechthin erhoben, auch wenn gerade wir zu den Kultur- und Entwicklungskreisen gehören, in denen zwar die Individuen sehr lange leben und gefühlt länger jung sind, das Kollektiv jedoch veraltet. Aber Paradoxien halten die Widersprüche am Tanzen.

Viele der Gesellschaften, die lange von unserer europäischen und us-amerikanischen Welt als die rückständigen betrachtet wurden, sind heute im Kollektiv wesentlich jünger und kommen mit einer Dynamik daher, die vieles verändern wird. Selbst der neue Stern unter den Mächten, China, zahlt bereits in Ansätzen den Preis fortgeschrittener Zivilisation: Die Lebenserwartung der Individuums steigt, die Alterung der Gesellschaft nimmt zu. 

Unabhängig von der Befindlichkeit der jeweiligen Zivilisation ist ein Phänomen zu beobachten, das zum Nachdenken anregen sollte. Besonders die Vertreter der großen, wirtschaftlich und/oder militärisch potenten Staaten haben Köpfe an ihrer Spitze, die bei den anfangs zitierten Natur- oder Urvölkern schon längst im Wald verschwunden wären und sich auf die Rückkehr in den Schoß der unbewussten Materie vorbereiteten. Die angekündigte Kandidatur des amerikanischen Präsidenten Joe Biden im Alter von 81 und die ebenfalls bekannt gegebene erneute Kandidatur Wladimir Putins (71) weisen auf ein Beharrungsvermögen subjektiv geblendeter Individuen hin, die schlechthin wohl dem Irrglauben anhängen, sie regierten auch aus dem nahenden Elysium weiter. 

Was bedrückt, ist nicht die Analogie, dass zwei alte Männer nicht an die nahe Zukunft ihres jeweiligen Landes ohne sie denken oder denken können. Was erschreckt, ist das jeweilige Machtgefüge, das keine Mechanismen aufweist, die dafür sorgen, dass Macht und politische Ämter nicht nur auf eine gewisse Zeit vergeben werden (was in den USA ja der Fall ist und in Russland der Fall war, aber vom jetzigen Präsidenten zu seinen Gunsten geändert wurde), sondern dass es weder einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass, sollte die individuelle Einsicht nicht vorliegen, die Regularien ein Höchstalter festsetzen.

Aber, um einen alten Freund, die in vielem richtig liegt, zu zitieren: es ist, wie es ist. Stellt sich nur die Frage, inwieweit die Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf realistische Zukunftsprognosen von Menschen dieser subjektiven Güte zu erwarten ist? Aber, es ist nicht nur so, wie es ist, es ist auch wie immer: wenn man nur zuschaut und sich nicht aufbäumt, dann wird das auch so bleiben. Im Osten wie im Westen. Wenigstens die Gemeinsamkeit ist geblieben. 

Das Grinsen des Sensenmannes

Die Selbstwahrnehmung unserer selbst ist in unserem Kulturkreis von Hybris geprägt. So, als lebe jedes Individuum immerfort, so, als altere niemand, so, als gäbe es nach uns selbst nichts mehr. Insofern ist es folgerichtig, dass der Tod das von allen am meisten gepflegte Tabu ist. Wer vom Tod, das heißt der Endlichkeit spricht, hat den Gesellschaftsvertrag gebrochen. Er negiert die Unendlichkeit des Menschen und der unbegrenzten Verfügbarkeit der Ressourcen, die er braucht, um immer mehr zu produzieren, immer mehr zu konsumieren und letztendlich alles zu ruinieren. Das Paradigma des Wachstums, und zwar des unbegrenzten, ist die Ursache für die Hybris. Die große Illusion der Unendlichkeit wie der Unsterblichkeit ist die Basis einer Gesellschaftsordnung, die täglich mit dem Anspruch ans Werk geht, sich alles untertan machen zu wollen.

Ja, es existieren Nischen. Nischen, in denen die Zweifler nach Begründungen suchen. Begründungen für die Möglichkeit der eigenen Einsicht, dass alles eine große Illusion ist. Begründungen für den Grad der kollektiven Verblendung, die davon ausgeht, es treffe immer nur die anderen, aber nicht das Selbst. Und diejenigen, die die große Illusion identifiziert haben, suchen in diesen Nischen Trost. Trost für das Verhängnis, in das die große Illusion führt, Trost für den Verlust dieser Nano-Sekunde der eigenen Existenz, in der nicht die Selbsterkenntnis steht, sondern die Verblendung. Nur kurz hier, als Gast auf dieser Erde, und beschäftigt mit dem Wahn der Unsterblichkeit.

Nicht, dass die Erkenntnis der großen Illusion schon seit Menschengedenken nicht die Winkel dieser Welt erhellt hätte. In unserem Kulturkreis ist sie wohl am besten mit der Formulierung beschrieben, dass wir alle nur Gast auf dieser Erde sind. Für kurze, kaum zu erfassende Dauer. Und dass wir diese sehr kurze Zeit dazu nutzen sollten, uns gegenseitig zu respektieren und die Grundlagen unserer Existenz zu schätzen. Aber, obwohl der Tod, der jeden Tag durch unsere Reihen schreitet und mit unerbittlicher Hand zeigt, wie es um uns bestellt ist, übertönen die Schreihälse der großen Illusion die Tagesroutine. Da scheint es, als seien wir nicht Gast auf dieser Erde, sondern die Erde ein kleines Utensil, mit dem wir machen können, was wir wollen, in unseren Händen. 

Und dennoch: obwohl der Zeitraum unserer Existenz denkbar kurz ist, sollte die Zeit genutzt werden, um aus diesem Bruchteil des Daseins etwas Sinnvolles zu gestalten und einen Beitrag zu leisten, der die Illusion demontiert. Wenn das Tabu des Todes demontiert ist, erscheint die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt als die wohl unsinnigste. Sie erzeugt nichts als ein Grinsen des Sensenmannes. Viel essenzieller ist die Betrachtung, ob ein Leben vor dem Tod existiert. Wie sollte es sein, wenn wir wissen, dass wir einen kurzen Gaststatus haben, mehr nicht. Und wie dann umgehen mit den Demagogen, die so tun, als bleibe alles immer so, wie die Sekunde es erscheinen lässt? 

So, wie es aussieht, sind wir jedoch weit entfernt vor der alles entscheidenden Selbsterkenntnis. Zumindest in unserem Kulturkreis. Ist es vielleicht die doch nicht so verborgene kollektive Klugheit, dass wir die Regie denen überlassen, die die große Illusion hochhalten und mit ihr handeln wie mit der begehrtesten Hehlerware, damit sie alles mit einem großen Knall zu ende bringen? Das hätte zumindest einen pikanten dramaturgischen Effekt. Oder nicht?