Im Grunde genommen befinden wir uns das ganze Jahr über in der Vorweihnachtszeit. Dass diese jetzt auch noch kalendarisch anbricht, ist ein großes Glück. Denn zu den Traditionen dieser Zeit zählt zumindest in deutschen Landen immer noch ein bestimmtes Gebäck, nämlich der Spekulatius. Ob die Bedeutung tatsächlich vom Lateinischen speculator (Aufseher) oder speculum (Spiegel) stammt, darüber mögen sich Etymologen streiten. Passend zum Zustand der ganzjährigen Weihnachtszeit ist allerdings der durchaus riskante Hinweis auf die Spekulation. Denn die gesamte Politik der letzten Jahre basierte auf Spekulationen. Dass die meisten dieser Artefakte sich nicht als spätere Realität erwiesen, liegt an der gesellschaftlichen Isolation der mit dem Geschäft der Politik Befassten und ihrer eigenen Unmündigkeit.
Denn wer sich permanent von fremden Mächten suggerieren lässt, was als Realität bezeichnet wird, verliert, um den seligen Karl Lagerfeld zu zitieren, endgültig die Kontrolle über sein eigenes Leben. Dass dieses Leben allerdings dazu in der Lage ist, das Schicksal einer ganzen Nation zu bestimmen, ist die große Tragik, die sich dahinter verbirgt. Dass sich Politiker haben kaufen oder leicht beeinflussen lassen, ist kein Novum. Das scheint nicht nur in der Spezies der Politiker verbreitet zu sein. Dass allerdings eine gesamte Kohorte sich dazu verleiten lässt, im tiefen Nebel zu stehen und selbst die ureigensten Interessen preiszugeben, scheint eine Besonderheit unserer Tage zu sein.
Auch wenn seit mittlerweile 35 Jahren der große Konkurrenzkampf zwischen Sozialismus und Kapitalismus zuende ging, befinden sich alle Menschen, die politisch sind und sich für eine Weiterentwicklung interessieren, bis auf die Triumphalisten versteht sich, vor der Aufgabe, immer wieder die Frage zu stellen, ob das eigene politische System tatsächlich in der Lage ist, die großen Herausforderungen der Zeit zu meistern. Und die Menschen tun dies, indem sie sich die Frage stellen, wie es aussieht in der Gesellschaft, in Bezug auf die Gesundheit, die Bildung, die Infrastruktur, die Versicherungssysteme, die Armut und den Reichtum, die Kunst und Kultur und ja, auch die Verteidigung.
Und hört man sich an, was die gesamte politische Klasse momentan an Antworten zu geben in der Lage ist, dann drängt sich mit aller Macht die Frage auf, ob die Produktion von Figuren, denen nichts mehr einfällt als Ressentiments und Feindbilder, um unbefriedigende Zustände zu erklären, systemisch ist oder nicht. Und eine weitere Frage, die sich anschließt, ist die, ob ein gutes politisches System nicht in der Lage sein müsste, die genannten Bereiche in einen Zustand zu versetzen, der befriedigend und sogar inspirierend ist.
An Produktivität und aus dieser resultierendem Reichtum hat es in der Vergangenheit nicht gefehlt. An Verantwortungsgefühl für die Gesellschaft als Ganzes schon. Gnadenloser Wirtschaftsliberalismus, Konfetti-Kapitalismus und Militarismus haben die Gesellschaft zu einem Fight Club entstellt und Zustände hinterlassen, in denen eine Politik, die dem Auftrag der Mehrheit verpflichtet ist und Charakter aufweist, nicht existiert. Die dissoziative Identitätsstörung lauert überall.
Niemand darf sich wundern, dass die Zustände so sind, wie sie sind. Und das elende Geschwafel, das immer wieder bei anderen die Schuld für diese Verhältnisse sucht, ist Ausdruck eigener Unverfrorenheit, sofern man selbst für das Dilemma durch eigene Beteiligung verantwortlich ist, oder grenzenloser Dummheit oder Korruption. Eine andere Erklärung existiert nicht. In den letzten Jahren wurde immer wieder die Phrase bemüht, man müsse Verantwortung übernehmen. Dann ist jetzt der Zeitpunkt! Und bitte kein Spekulatius mehr! Zumindest im politischen Disput!
