Schlagwort-Archive: Feuilleton

Das wahre Leben und das Feuilleton

Die Anzeichen dafür, dass sich bei der gefühlten Welt um eine andere handelt als diejenige, deren Entwicklung noch gemessen und dokumentiert werden kann, vermehren sich. Das Narrativ, wie es nun heißt, um die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung, spricht von einer Situation, in der es den Menschen noch nie so gut gegangen sei und in der der Frieden noch nie sicherer gewesen sei, zerbricht an der schnöden Realität von immer größeren Teilen der Gesellschaft. Das Soziale dieser These steht nachlesbar selbst in den Berichten, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat. Der Frieden bleibt eine Hypothese. Einerseits führt auch die Republik seit langer Zeit in verschiedenen Ländern Krieg, andererseits ist das hiesige Territorium – noch? – davon verschont.

Um letzteres zu illustrieren, seien nur die Zusagen an den ukrainischen Oligarchen Poroschenko von Frau Merkel genommen, sich weiterhin für den Frieden in der Ost-Ukraine einzusetzen. Der Konflikt brach, zur Erinnerung, aus, als in dem Land ein gewählter Präsident mit Hilfe us-amerikanischer Mittelsmänner und Gelder gestürzt wurde, weil er das Junktim EU-NATO nicht unterzeichnen wollte. Und bei der Ukraine geht es geo- und militärstrategisch um den Osten, sonst ist sie wertlos. Das wussten auch die Russen und somit hatte man sich bei den Expansionsplänen, denn etwas anderes waren sie nicht, kräftig verspekuliert. Ein weiteres Indiz für das geplante globale Vabanque ist das gestrige Treffen zwischen Trump und den Saudis, bei dem so eben ein Waffendeal von 100 Milliarden US-Dollar vereinbart wurde. Die Geschichte hat uns gezeigt, dass beide Länder diese Waffen sehr schnell einsetzen werden, zumeist sogar in der Art und Weise, dass erst danach darüber nachgedacht wird, was dieser Einsatz bewirken sollte.

Die NATO, das so gepriesene Eldorado des Weltfriedens, hat bis dato noch jede Eskapade der USA unterstützt. Nun, nach dem großen Geheul nach Trumps Wahl, bei dem hätte gedacht werden können, dass es Überlegungen zu einer Teil-Emanzipation gegenüber den USA gäbe, stehen sie wieder alle, voran die schneidige Bundesverteidigungsministerin, stramm und folgen dem Imperium in seine Szenarien des allmählichen Abstiegs. Da wundert es dann auch nicht mehr, dass der ansonsten durchaus energische Sekretär Stoltenberg den Dissens der beiden Mitglieder Türkei und BRD über das Besuchsrecht in Incirlik als eine Sache dieser beiden Mitglieder bezeichnete, in die sich die NATO nicht einmische. Wohl dem Bündnis, das gemeinsamen Werten folgt.

Ach ja, die Ökonomie. Uns geht es so gut, dass immer mehr Kinder unter die Armutsgrenze fallen. Uns geht es so gut, dass immer mehr Menschen ihr Dasein an einer existenziellen Grenze fristen müssen, die sie wegdrängt von der Zeit, die ein Mensch braucht, um sich mit dem immer komplexer werdenden Sujet der Politik zu befassen. Uns geht es so gut, weil die Löhne und Gehälter hier es garantieren, dass der viel gelobte Exportweltmeister so viel exportiert, wie er es tut. Doch die Struktur vieler Firmen erlaubt es, die Revenuen, die daraus entstehen, nicht besteuern zu müssen. Und dann sitzt da ein Finanzminister, der lieber spart als investiert.

Der Frieden und die Wirtschaft wären die Themen, mit denen auch in Deutschland die Massen mobilisiert werden könnten. Dazu bräuchte es Herausforderer, die das tatsächlich wollen und die sich zusammenschließen, um es bewirken zu können. Wenn das nicht nicht geschieht, bleibt alles so, wie es ist. Es wird Zeit, dass auch die jüngeren Generationen erfahren, was solche Kämpfe lehren. Kein noch so gutes Feuilleton kann das ersetzen. Keines.

Ungeheurlichkeit, zur Sprache gefunden

Maxim Biller. Biographie

Ein heute kaum noch erhältlicher Roman über den spanischen Bürgerkrieg von dem vergessenen deutschen Autor Karl Otten trug einen Titel, der die Situation hervorragend trifft: Torquemadas Schatten. Torquemada, der Großmeister der spanischen Inquisition, wurde schon damals bemüht, um die schrecklichen Zustände eines historisch überkommenen Moralismus, die Herrschaft des Dogmas und die mit ihr verbundene Zensur und Selbstzensur zu beschreiben. Torquemada warf bereits vor dem endgültigen Sieg des spanischen Faschismus seine Schatten und insofern handelt es sich um eine Metapher, die auch zeitgenössische Phänomene durchaus gut illustrieren kann.

Ein beklemmendes Beispiel dafür ist die nahezu inquisitorische Kritik an Maxim Billers neuem Roman Biographie. Es ist anzunehmen, dass Biller mit dieser Geschichte zweier unzertrennlicher Freunde aus einem jüdischen Nest in der Ukraine, die es in ihrer beider Biographie durch Städte wie Prag, Hamburg, Berlin, Tel Aviv und andere Hotspots dieser Welt treibt, auch der gegenwärtigen Befindlichkeit im moralinsauren Deutschland einen Schock versetzen wollte. Aber das, so die These, ist in dem 900-Seiten-Werk wohl nur eine billigend in Kauf genommene Mitwirkung. Zentral geht es um die nicht auflösbare, in alle Lebensbereiche strahlende Traumatisierung jüdischer Familien durch die Höllenfahrt des 20. Jahrhunderts in Zentraleuropa.

Der nicht enden wollende, weil für beide existenziell substanzielle Dialog um den Ausweg, die Flucht, die brachiale Abwendung von dem Geschehenen, ohne es vergessen zu wollen, ist sprachlich zu einem Projekt geworden, das in der deutschen Gegenwartsliteratur seinesgleichen sucht. Das mag genau das sein, was viele Rezensenten aus dem wohl saturierten, aber blutarmen Feuilleton so echauffiert. Vom ersten bis zum letzten Satz entfacht Maxim Biller in diesem Roman ein sprachlich-metaphorisches Feuerwerk, wie es keiner der viel gefeierten Nachwuchstalente der deutschen Gegenwartsliteratur in der Lage wären zu zünden. Wer so schreibt, der hat die Vehemenz der Katastrophe mit der Muttermilch eingeflößt bekommen, vom Holocaust, vom Krieg, vom Kommunismus, vom Zusammenbruch, und alles immer wieder gespiegelt durch die Ereignisse in und um den Staat Israel, von Yom Kippur bis Intifada. Da bleibt das Gestelze der political correctness notgedrungen auf der Strecke.

Der Erzählfaden von Biographie ist die Biographie dieser beiden Brüder, die keine sind, die sich aber verstehen, weil sie die Aporien ihres Lebens als ein Faktum akzeptieren, das sie nicht ertragen, mit dem sie aber umzugehen haben. In dieser Welt der teilweise erfolgreichen, teilweise schon im Ansatz zum Scheitern verurteilten Eskapismen hat der bildungsbürgerliche Diskurs keine Chance. Dort, wo es ums nackte Überleben geht, spielen alle Phantasien, die vor dem Zusammenbruch das menschliche Hirn durchschießen, die zentrale Rolle: Sexuelles, Martialisches, Befremdliches. Wer diesen Zusammenhang nicht sieht, den zwischen historisch einzigartigem Trauma und dieser hastigen Art, zu konfrontieren, zu verdrängen und zu fliehen, der hat das Instrumentarium, diesen Roman verstehen zu können, aus der Hand gegeben oder gar nicht erst erworben.

Ungewöhnlich für eine Rezension, aber aufgrund der Ungeheuerlichkeit an Ignoranz erlaubt, sei darauf hingewiesen, dass der Ethikrat der vereinigten Feuilletons durch den nahezu kollektiven Verriss von Maxim Billers Biographie sich nicht nur zu einer Analogie von Torquemadas Schatten mausert, sondern auch in einer ungewohnten Breite die eigene Ignoranz dokumentiert. Wer Geschichte, vor allem das Desaster des 20. Jahrhunderts, aus der Perspektive europäischer Juden als etwas betrachtet, das hinter uns liegt und die Tischsitten des Bürgertums einfordert, der hat im wahren Sinne des Wortes nichts verstanden. Wer es lernen will zu verstehen, der lese Maxim Biller.

Vom Kriege

An ihren Taten sollt ihr sie messen! Kaum ein Wort aus der Heiligen Schrift hat bis heute eine derartig überzeugende Wucht. Wahrscheinlich, so könnte man es realistisch formulieren, liegt das daran, dass es dieses Diktum überhaupt dorthin geschafft hat. Wie dem auch sei! Der Satz gilt immer noch, und mehr denn je. Und man sollte ihn sich vor allem in einer Gesellschaft vor Augen führen, die so viel Wert auf Wertschätzung, Transparenz, Emanzipation und politische Korrektheit legt. Eine einzige Personalentscheidung hat dieses Konsortium der Heiligkeit in mächtige Aufregung versetzt, weil eine Domäne gestürmt wurde, die noch mehr als Sanktuarium der Männer gilt als der Fußball. Es handelt sich um das Militär.

Mit der Benennung von Frau Ursula von der Leyen als Bundesverteidigungsministerin wurde nicht nur eine Bastion gestürmt, sondern auch der Lackmustest für die moralische Herrschaft unserer Tage bereitet. Und welch Wunder: Nicht die konservativen, von einem gemütlichen Paternalismus inspirierten Kreise gingen emotional auf die Barrikaden, sondern all jene Kräfte, die sich als die Gralshüter des Fortschritts begreifen und zu verkaufen suchen. Das, was an Kommentaren über die mutige Frau aus diesem Lager kam, kann als das Abgeschmackteste der letzten Jahre beschrieben werden. Von zotigen Witzen über die feminine Stimmlage über ausgefranzte Metaphern wie die Mutter der Kompanie bis hin zu Anzüglichkeiten über den weiblichen Körper in Uniform ließen sich die Fortschrittlichen des Landes aus und entlarvten sich damit allesamt als Hochstapler in Sachen Emanzipation.

Mit ihrer bis jetzt reichenden Biographie hat die neue Ministerin sehr wohl gezeigt, dass sie in der Lage ist, schwierige Organisationen zu managen. Acht Kinder und einen qualifizierten Beruf zu haben ist schon eine kolossale Leistung in unseren Strukturen, die man nicht durch einen dezenten Verweis auf private Vermögensverhältnisse zu schmälern suchen sollte. Und ihr Wirken im Arbeits- und Sozialministerium muss man hinsichtlich der politischen Zielsetzungen nicht vollends unterstützen, aber anerkennen sollte man schon, wie deutlich sie dort ihre Führungsaufgabe wahrgenommen und wie gut sie die Rolle der internen Kommunikation begriffen hat.

Eigenartigerweise hat das alles bei der kritischen Betrachtung der Personalentscheidung keine Rolle gespielt. Und noch eigenartiger ist, dass aus dem Lager der Kritik kein Wurf kam gegen die ersten zugegeben verwegenen programmatischen Aussagen aus dem Munde der Ministerin. Denn bei einer Berufsarmee die Vereinbarkeit von Familie und Beruf an die erste Stelle zu setzen, auf diese Nummer kommen normalerweise nur angetrunkene Offiziere im Casino. Die Ministerin wäre gut beraten gewesen, sich zur Strategie dieser Armee zu äußern oder über die Entwicklung der Waffenarsenale als über Kinderkrippen. Bei der anhaltenden Kritik gegenüber den USA sollte klar sein, dass die militärischen Belastungen der Bundesrepublik nicht nur proportional zur Abnabelung von der einstigen Schutzmacht steigen werden, sondern auch eine eigene strategische Konzeption entwickelt werden muss. Genau darüber sprach die neue Ministerin nicht und gerade dafür bekam sie viel Lob von denen, die sie als Frau schmähten. Fassen wir das als weiteres Testat über den gegenwärtigen Geisteszustand der Republik, denn zu mehr taugt es nicht.

Während die selbst ernannten Wächterinnen und Wächter der öffentlichen Moral demonstrierten, dass sie zur Analyse der globalen Politik weniger taugen als zur Aktivierung verstaubter Vorurteile, sollten wir zumindest die Courage der Hauptperson honorieren, die soeben dabei ist, ohne große Deklamationen mehr für die Frauenemanzipation zu tun als das gesamte feministische Feuilleton.