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Die kalte Arithmetik der Barbarei

Götz Aly. Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus

Sie mag ihn nicht, die Zunft der Historiker. Die Ansätze, die er bei seinen Forschungsarbeiten verfolgt, ist ihnen zu schonungslos, vielleicht auch zu blasphemisch. Denn es herrscht bei aller Traumatisierung ein Konsens hierzulande, und der definiert sich über eine moralische Herangehensweise an den deutschen Faschismus. Dass dieses dem Forschungsgegenstand nicht immer gut tut, hat der Nachfahre des königlich-preußischen Kammertürken Friedrich Aly nun schon mit einigen Büchern dokumentiert. Deshalb mag man ihn nicht in der Zunft und unternimmt alles, um ihn aus dem Wissenschaftskorpus fern zu halten.

Götz Aly stört das nicht, was von großem Wert ist. Auch mit seinem Buch Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus reißt er die Schranken der Erkenntnis ein, die das Setting der hiesigen Geschichtswissenschaft gesetzt hat. Götz Aly weist in beeindruckender Weise nach, dass der deutsche Faschismus nicht ausschließlich das Machwerk einer kleinen kriminellen und moralisch verkommenen Clique war, die sich mit Mitteln des Terrors und der Demagogie über Wasser hielt. Dieser Mystifikation, die das Ziel verfolgt, das damalige Gemeinwesen und seine Rechtsnachfolger in Ost und West in gewisser Weise zu exkulpieren, setzt das Buch Götz Alys eine kalte Recherche entgegen. Dabei nähert es sich der Kontur, die uns bis heute beschäftigen sollte: der sozialistische Gedanke des deutschen Faschismus wurde durchaus gelebt, als eine Art Korruptionsmaschine, die die Volksdeutschen bediente und sich speiste aus den Expropriierungen der jüdischen Bevölkerung im Inland und militärisch besetzten Ausland.

Einmal abgesehen von Beobachtungen, die so ganz nebenher gemacht werden, aber zu denken geben sollten, nämlich dass das Personal des faschistischen Regierungsapparates bei Machtantritt das jüngste der Neuzeit war, was dem juvenilen Wahn unserer Tage einen Dämpfer versetzten sollte, untersucht Aly sehr akribisch die Steuerpolitik der Nazis, von denen vor allem die Arbeiterfamilien profitierten, von den Mietpreisbindungen, die ebenfalls den niederen Einkommensschichten zugute kamen, von den Sonderbesteuerungen der Reichen und von dem zunächst steuerlichen, dann physischen Terror gegen die jüdische Bevölkerung bis hin zur systematischen Enteignung durch die Arisierungsprogramme. Damit wurde erst die Aufrüstung und dann die Militäroffensiven finanziert und die soziale Atmosphäre, in der diese Ereignisse, die das Gesicht der fabrikmäßigen Barbarei offen zeigte, war unter den Volksdeutschen alles andere als angespannt. Und nachdem die Expropriierungskampagnen im eigenen Land so gut funktioniert hatten, wurden diese in den besetzten Gebieten einfach kopiert. Neben Erkenntnissen, die diese Politik beschreiben und bereits aus Frankreich und Belgien vorlagen, illustriert Aly das ganze Ausmaß des Zynismus und der Menschenverachtung anhand der Beispiele aus der Slowakei, Bulgarien und Rumänien.

Das nationalsozialistische Programm war eine Mixtur zwischen Terror und Wohltat, zwischen Ausgrenzung in ihrer extremst möglichen Form und der Massenkorruption. Das Interessante an Alys Thesen und den dargelegten Fakten ist zudem die Kontinuität der von den Nationalsozialisten geschaffenen Sozialinstitutionen und Sozialgesetze über den Faschismus hinaus. Vieles aus der ehemaligen DDR und der historischen wie heutigen Bundesrepublik ist bis heute aktuell und man ist stolz auf Institutionen, Gesetze und Begriffe, die aus der Wiege des deutschen Faschismus stammen. Ein Vergleich mit anderen europäischen Demokratien verifiziert diese These, denn so eigenartige Begriffsdrogen wie die Daseinsvorsorge, Fürsorge oder Betreuung existieren dort nicht. Das ist wohl der Grund, warum die Ergebnisse von Götz Alys Forschungsansätzen ein solches Unbehagen auslösen. Doch, was ist erregender als die Wahrheit?

Massenpsychologie

Wilhelm Reich, der Verfolgte und später in seinem Exil Belächelte war es, der sich dezidiert der Fragestellung widmete, welche psychischen Wirkungsformen es waren, die dem Faschismus eine Massenbasis gaben. In seinem Buch Die Massenpychologie des Faschismus ging er methodisch und pedantisch vor: Er ließ nichts aus, was nicht betrachtenswert gewesen wäre. Von der militärischen Hierarchie und ihren Ritualen bis zu den Uniformen, vom Marschrhythmus bis zu den Marschformationen betrachtete er die Inszenierung eines totalitären Systems als psychologisch wirksamen Gesamtkunstwerk, das von seiner Wirkung her den Sexus wie den Todestrieb mobilisierte. Wilhelm Reich wurde bekanntermaßen in seinem amerikanischen Exil zu einem gefährlichen Sonderling. Dennoch hat er der Nachwelt manch wichtiges Werk zurück gelassen, das bis heute lesenswert ist. Die Massenpsychologie des Faschismus steht in verstaubten Regalen.

Obwohl die westliche Welt nach dem II. Weltkrieg vor allem über die USA und dem dortigen Einfluss der Psychoanalyse einer umfassenden Psychologisierung ihrer Deutungssysteme unterlag, ist eine Aktualisierung der Psychologie der gängigen Formen von Herrschaft ausgeblieben. Das mag zum einen daran liegen, dass die verschiedenen Ausprägungen der Demokratie, die sich über den Westen legen, nichts mit einem totalitären System gemein haben. Zum anderen ist die Kritik an den gegenwärtigen Daseinsformen von Herrschaft nach Auflösung der bipolaren Weltaufteilung 1990 nahezu verstummt.

In diesem Kontext ist es interessant, dass die gesamte Organisationsberatung nahezu flächendeckend auf therapeutische Ansätze zurückgreift, die allesamt aus der Begutachtung des Individuums stammen und Massenphänomene ignorieren. Bei näherer Betrachtung unserer Deutungsmuster fällt auf, dass weder in der Arbeitswelt noch im politischen Orkus umfassende Studien oder auch nur kritische Extrakte bekannt sind, die sich mit der Psychologie der Masse beschäftigen. Das ist bemerkenswert, weil es große Aufschlüsse über die Wirkungsweise von Arbeit und Politik geben könnte. Der Grund liegt wahrscheinlich in dem Trugschluss, dass die Masse als solches nur in totalitären Regimes eine Rolle spielt.

Betrachtet man die Veranstaltungen in unserem Alltag, in der Masse wirkt, dann wird deutlich, wie wichtig eine derartige Betrachtung ist. Ob in Fußballstadien, auf Volksfesten oder im virtuellen Raum des Internets, das Auftreten der Masse hat nirgendwo die Aura einer aufklärerischen und kritischen Instanz. Die Wirkungsweise ist zumeist eine eher raue, rohe, zumeist arm an Sinn und unreflektiert. Auch die viel beschworene Sphäre des Internets ist alles andere als kritisch und emanzipatorisch. Bei Ansicht bestimmter Foren politischen Inhalts wäre wahrscheinlich selbst ein Wilhelm Reich davon überzeugt, als herrschten noch die Rutenträger.

Und natürlich existieren im Verborgenen haargenaue Studien über psychologische Wirkungen auf die Masse. Nur sind diese nicht Gegenstand eines öffentlichen Diskurses. Sowohl bei der Werbung als auch bei der Vermittlung politischer Botschaften geht es nie ohne psychologische Consultants. Das Heer der Berater war wohl nie größer als heute. Umso mehr ist es erforderlich, die Rezeptionsmechanismen der Masse zu analysieren. Die Frage, die sich mit dieser Notwendigkeit verbindet ist die nach dem kritischen Potenzial in der psychologischen Wissenschaft. Manchmal scheint es, als sei dieses von der Consultingblase absorbiert und die „Spannung“, die mit jedem Honorarauftrag erzeugt wird genügt, um jede Form der Kritik zu verhindern. Das gilt natürlich auch für andere Wissenschaften. Da passt das Wort eines früheren Lehrers, der die Rolle der Germanisten im Dritten Reich folgendermaßen beschrieb: Sie haben mit den Wölfen geheult, um als Hunde zu überleben!

Der Faschismus und die Amöben

Das politische Leben des Heiner Geißler bietet fürwahr viele Angriffsflächen. Und im Umgang mit Zitaten hat er, zumindest in anderen, früheren Phasen seines Wirkens, durchaus bewiesen, dass er das Zeug zum Demagogen hat. Es sei nur an seine wagemutigen und diskreditierenden Erklärungen erinnert, als er während der politischen Debatten um den NATO-Doppelbeschluss der Friedensbewegung vorwarf, ihr Defätismus hätte den Faschismus erst ermöglicht. Das war jenseits der polemischen Grenzen und veranlasste keinen geringeren als Willy Brandt dazu, ihn in die Nachfolge der politischen Propaganda seit Goebbels zu stellen.

Umso erstaunlicher ist die Entwicklung dieses Politikers, der sich im Laufe der Jahre immer mehr von der offiziellen Politik der CDU entfernte, aber stets ihr Mitglied blieb und dennoch in Foren wie ATTAC auftauchte und mitarbeitete. Und bei der Auseinandersetzung von Stuttgart 21 tauchte er gar auch in den Augen der Gegner als Lichtgestalt und geliebter Schlichter auf. Dass es bei einem antagonistischen Widerspruch kaum einen Kompromiss geben kann, war wohl von vornherein allen Beteiligten klar. Und so wartete man ab, bis die Katze aus dem Sack war. Nun, wo es soweit ist und deutlich wurde, dass die Befürworter von Stuttgart 21 und ihre Argumentation zunehmend begünstigt sind, wenden sich die Gegner vom Verfahren ab und suchen nach Begründungen.

Und siehe da, wie aus dem Nichts taucht eine Formulierung Geißlers auf, die er nach einem zehnstündigen, aufreibenden Verhandlungsmarathon gebraucht hat und historisch aus dem Munde eben jenes Joseph Goebbels stammt, in dessen Tradition Willy Brandt ihn vor einem Vierteljahrhundert gesehen hatte. In jener berühmten Sportpalast-Rede vor ausgesuchten Parteimitgliedern hatte Goebbels die euphorisierte Menge gefragt, ob sie den totalen Krieg wolle. Totaler und radikaler als je zuvor. Jubelnd hatten die Besucher des Berliner Sportpalastes diese Frage bejaht und die Szene wurde als Propagandamaterial während des Krieges von den Nationalsozialisten verwendet.

Bei Heiner Geißlers Formulierung handelt es sich also tatsächlich um ein Zitat, das seiner gesamten Generation geläufig ist, weil sie damit konfrontiert wurde. Der Gebrauch des Zitates kann allerdings schwerlich als suggestive Frage des Stuttgart 21-Schlichters gewertet werden, auf die er eine euphorische Befürwortung erwartete, sondern er benutzte die Formulierung nachweislich, um eine totale Konfrontation als schlechteste aller Lösungen zu zeichnen.

Der Versuch, den Schlichter nur wegen eines historischen Zitates zu diskreditieren, welches er alles andere als politisch verwerflich benutzt hatte, hat eine gewisse Analogie zu totalitären Propagandamethoden. Indem Texte aus dem historischen Zusammenhang herausgerissen werden, werden sie semantisch entstellt und führen zu kalkulierten Fehlschlüssen, die dem Betroffenen schaden sollen. Das kann nur bei ahistorischen Wesen wie Amöben wirken. Das völlig abgeschmackte Vorgehen ist ein Plädoyer für historisches Wissen. Wer sich von solchen Tricks verführen lässt, dem ist nicht mehr zu helfen.