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Zur Delegation von Macht und Schuld

Die Aussage, dass der Prozess der Vereinigung ein langer ist, wie von der Kanzlerin anlässlich des 3. Oktobers formuliert, ist so richtig wie trivial. Die Feststellung allein führt nicht weiter. Vieles, was zu der Identitätskrise der Gesellschaft beigetragen hat, begann mit dem Jahr 1990. Einiges davon liegt in der Vergangenheit. Manches in der vor der Vereinigung, vieles in der Zeit danach. Es ist Zeit, sich darüber Klarheit zu verschaffen und sich einer Programmatik zu verschreiben, die konkrete praktische Folgen hat.

Ein Themenblock, der bis heute Wirkungsmacht versprüht, der allerdings dem Tabu unterliegt, ist die doppelte Ausblendung der Vergangenheit in Deutschland Ost. Zum einen wurde bereits bei der Teilung dort die Frage nach der Auseinandersetzung mit Faschismus und Krieg ausgeblendet. Die Mit-Verantwortung auch im Osten Deutschlands wurde von der offiziellen Doktrin schlichtweg negiert. Das historische Debakel der Diktatur wurde exklusiv als Angelegenheit des Westens deklariert und wurde dort im Zusammenhang mit den Jugendprotesten der späten 60iger Jahre ausgetragen. Die Wurzeln der Diktatur, die im Osten ebenso im kollektiven Bewusstsein schlummerte, wurde verdrängt.

Analog verlief es beim Prozess der Vereinigung. Auch jetzt regierte die Devise, dass die Blaupause für Entmündigung und Diktatur in Moskau und nicht in den Verhaltensweisen zu finden war, die in Frankfurt an der Oder oder in Jena zu finden waren. Chance negiert, Chance vertan. Was sich damit zu einer kollektiven Tradition etablierte, war die Schuldzuweisung nach außen und die Exkulpierung des Inneren.

Nun war der Westen zum Paradigma aller geworden. Von denen im Westen durchaus kritisch gesehen und praktiziert, von denen im Osten mit Hoffnung begrüßt und zum Schluss mit Enttäuschung quittiert. Jetzt zahlte sich das Defizit an Eigenverantwortung aus und schlug seinerseits Wurzeln.

Was in beiden Teilen des Landes seitdem grassiert, ist die Suche nach Verantwortlichen für Fehlentwicklungen. Dass diese hausgemacht sind und nicht bei den berühmten externen Sündenböcken zu finden ist, führt zu einer weiteren Frustration. Denn tief im Innern schlummert bereits die Erkenntnis, dass das, was die Zuversicht in beiden Teilen Deutschlands zerstört, im eigenen Land zu finden ist und nicht mit der Liquidierung dieses oder jenes Unglücksraben zu beseitigen ist.

Vor diesem Land steht harte Arbeit. Sie muss sich konzentrieren auf die Enthüllung der Mechanismen, die zu sozialer Spaltung führen, sie muss sich auseinandersetzen mit dem Spiel der Macht, das viele abstößt und sie muss sich auseinandersetzen mit der Konstruktion von Tabus, die dann aktiviert werden, wenn es darum geht, die Interessen derer freizulegen, die Ursache für manche Misere sind.

Was jetzt zählt, sind praktische Konsequenzen. Was jetzt zählt ist konkrete Aktion. Dort, wo das Misstrauen groß ist, muss selbst gehandelt werden. Und das ist nicht im Berliner Reichstag, sondern überall da, wo gearbeitet, gelernt und gelebt wird. Jede Alltagsroutine zählt. Dort, wo entmündigt wird, muss die Auseinandersetzung gesucht werden und dort, wo Entscheidungen gefällt werden, die ausgrenzen, die manipulieren und die das Verhältnis von Richtig und Falsch auf den Kopf stellen, müssen diese revidiert werden. Das muss vor Ort ausgefochten werden. Das verlangt Courage, Energie und es verlangt auch Verluste. 

Die Zeit der Delegation, von Macht wie von Schuld, muss ein Ende haben. Die Verantwortung dafür tragen alle. Es steht viel auf dem Spiel.   

Bei Mythos Mord

Jetzt haben wir die Quittung. Rassismus und Faschismus sind mitten unter uns. Das Schlimme dabei ist, dass die Phänomene nicht mehr politisch lokalisiert werden können. Aus nahezu jedem politischen Lager kommen Sätze, die über Jahrzehnte längst nicht mehr als salonfähig galten. Heute sind sie es. Und zwar in einem Maße, dass es nicht mehr zu ertragen ist. Das ist in vielen Ländern Europas so, in Deutschland ist es eine ausgewachsene Katastrophe. Das Land, das aus seiner suizidalen, mörderischen und neurotischen Geschichte gelernt zu haben schien, ist genauso wenig immun gegen die zivilisatorische Pest wie woanders. Mitunter sind die Symptome noch schlimmer.

Woher stammt das kontinuierlich Barbarische in diesem Land? Es existieren Erklärungsansätze, die alle einige Gramm Wahrheit erhalten, historische, psychologische, soziologische, politische und sogar ökonomische. Und alle liefern wertvolle Erkenntnisse. Aber dennoch! Sind sie mächtig genug, um die Inkompetenz als Nation in einer zivilisierten Welt zu erklären? Oder ist doch alles auf den Ur-Mythos der Deutschen zurückzuführen? Auf den meuchlerischen Mord an dem einzigen positiven Helden, den das Land jemals kannte?

Siegfried, der den Rhein herunter fuhr, um es bis nach Island zu schaffen, die Quelle der nordischen Erkenntnis, um nach seiner erfolgreichen Rückkehr irgendwann in der Nähe der heutigen Kläranlage der BASF von dem Verräter Hagen dahingemetzelt zu werden und einen eines Helden unwürdigen Tod zu sterben. Ist dieser Siegfried und sein unrühmliches Ende die Hypothek, die dazu geführt hat, an Erlöser zu glauben, obwohl bekannt ist, dass sie kläglich scheitern werden? Geht es nur um den Rausch im Flow, der mit der tiefen Depression nach dem Sturz bezahlt wird? Oder ist das auch nur eine Erklärung wie vieles andere, das diesem Land aufgrund seiner zahlreichen mächtigen Ränder attestiert, zwar das Zeug zu genialen Gedanken zu haben, aber keinerlei Kompetenz in Sachen Staatsführung und Demokratie?

Von welcher Perspektive auch betrachtet, der öffentliche Zugang zum Giftschrank des zivilisatorischen Untergangs war immer zugänglich, und daran hat sich nichts geändert. Und vielleicht ist es an der Zeit, die deutsche Binnensicht einfach aufzulösen und nach anderen kulturellen wie staatlichen Modulen zu suchen, die die ätzende Abhängigkeit vom Totalitarismus auflöst. Was dieser Kulturraum benötigt, ist vieles. Auf jeden Fall ein langes und zähes Training, um die Fähigkeit zu einem tatsächlichen und wahrhaftigen gesellschaftlichen Diskurs zu erlangen. Das kollektive Schweigen und die passive Betrachtung der aktiven Schreihälse haben zu dem Debakel geführt, in dem wir uns befinden. Es darf keine Angst geben vor dem Streit und den daraus resultierenden Wunden. Nur Ensembles, die es verstehen, sich zu streiten, erlangen die Fähigkeit, politisch zu überleben. Nur wenn der legendäre „Kleine Mann“ es lernt, dem eloquenten Rhetor der Verführung zu widersprechen, wird es in diesen Breitengraden zu Veränderungen kommen.

Gesellschaftliches Sein ist kein Schauspiel, das man betrachten kann, ohne daran teilzunehmen. Das ist die Lektion, die diese vermeintliche Nation nicht gelernt hat. Nur wer für das soziale Gebilde, in dem er sich bewegt, leidet oder bereits gelitten hat, lernt das Erreichte zu lieben. Aufgrund der Heimtücke, die uns der Hagen hinterlassen hat, ist es gekommen, dass uns andere das gaben, was wir brauchten, ohne dass wir es schätzten, oder das nahmen, was wir liebten, ohne wir es wussten. Ein Heraushalten ist keine Option. Es geht um Sein oder Nicht-Sein! Begreift das endlich!

Ein Brief an meine türkischen Freunde

Liebe Freunde,

nun kennen wir uns seit vielen Jahren. In dieser Zeit haben wir uns schätzen gelernt. Es vergeht kein Tag, an dem wir uns nicht über den Weg laufen. Und jedes Mal, wenn das der Fall ist, stellen wir insgeheim, oder besser gesagt, im Unterbewusstsein fest, dass ihr wie wir einen guten Job machen. Ihr seid froh, dass es uns gibt und wir sind froh, dass es euch gibt. Das ist so eine geistige Spielerei, denn de facto wie de jure sind wir gleich. Wir sind allesamt Bürgerinnen und Bürger eines Staates, der eine Verfassung hat und sich zu den Grundrechten bekennt. Aber auch zur Gewaltenteilung und zum Primat des Rechtes.

Aber wenn wir gleich sind, was unterscheidet uns dann? Bis auf Kleinigkeiten wie das physische Aussehen oder die unterschiedlichen Essensgewohnheiten oder vielleicht auch der unterschiedliche Glaube unterscheidet uns im Wesentlichen nur eines. Es ist die Geschichte. Und, machen wir uns da nichts vor, eure Geschichte haftet euch genauso an wie uns die unsere. Der Unterschied zwischen uns ist, dass eure Familien einen anderen Weg an den heutigen Platz gegangen sind als die unseren. Während unsere Familien im selben Land blieben und in ihrer Sprache und Vorstellungswelt handeln konnten, musstet ihr oder eure Eltern oder eure Großeltern in eine andere, fremde Welt, in der eine andere Sprache gesprochen wurde, in der anders gedacht wurde, in der zu einem anderen Gott gebetet wurde und in dem die Familien anders strukturiert waren.

Das war für euch nicht einfach, und fürwahr, wir sind und waren immer ein stures Volk, das sehr kritisch auf diejenigen schaute, die neu hinzukamen, völlig unerheblich, aus welchem Sprach- oder Kulturkreis. Und, wenn wir uns aus dieser Erfahrung unsere gemeinsame Geschichte anschauen, dann habt ihr es geschafft. Ihr habt eine schmerzhafte Feuertaufe bestanden, denn schon lange gehört ihr dazu und keiner will euch missen. Und ihr werdet nicht nur geschätzt wegen eurer Leistungen in diesem unserem System, sondern auch, weil ihr vieles mitgebracht habt, das unser Leben bereichert hat.

Wie ich bereits sagte, wenn uns heute etwas unterscheidet, dann ist es unsere Geschichte. Und diese Geschichte hier, im alten wie im neuen Deutschland, die hat uns sehr geprägt. Das große Trauma, das dieses Land erlebt hat, war der Faschismus. Er hat die Gesellschaft gespalten, er hat das Recht außer Kraft gesetzt, er hat den Terror zum Regierungsinstrument gemacht und er hat einen Krieg angefacht, der die ganze Welt in Brand setzte. Einige von denen, die das erlebt haben, sind noch unter uns und ich empfehle euch, mit ihnen zu sprechen. Denn sie wissen noch sehr genau, nach welchem Regiebuch die Nationalsozialisten damals vorgegangen sind, um an die Macht zu kommen. Da, und die beiden Ereignisse lege ich euch wirklich ans Herz, weil ich euch so schätze und es gut mit euch meine, da waren ein Reichstagsbrand ein Ermächtigungsgesetz. Danach ging alles seinen Gang.

Ich habe Stimmen aus euren Reihen gehört, die kritisierten, dass bestimmte deutsche Behörden es türkischen Politikern untersagt haben, hier für etwas Werbung zu machen, dass wir mit unserer Geschichte als ein Ermächtigungsgesetz bezeichnen würden. Ihr, oder einige von euch, seht das als mangelnden Respekt vor eurer Herkunft. Das ist falsch. Es ist unsere Fürsorgepflicht euch und euren in der Türkei lebenden Familien gegenüber, dass euch eine Geschichte wie die unsere erspart bleibt. Begreift es! Ihr seid angekommen! Die Verbote sind eine Liebeserklärung an euch!

Wie immer, euer M.