Walter Benjamin schrieb davon, dass die hohe Schule der Erzählung bei den fahrenden Gesellen zuhause ist. Als ich das las, viele Jahre nachdem ich in der Person meines Vaters einem fahrenden Gesellen zugehört hatte, konnte ich das nur bestätigen. Mein Vater war als Schmied einige Jahre auf der Straße gewesen und hatte, auch das ist bittere Wahrheit, als Soldat im Krieg auch eine besondere Existenzform des fahrenden Gesellen erlebt. Seine Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, war phänomenal.
Wie oft saßen wir abends in der Küche und hörten uns seine Erlebnisse an. Immer wieder hingen wir gebannt an seinen Lippen und oft war es wie ein Wunschkonzert: Erzähl doch mal die Geschichte, wo du mit Steif Dahl an der Donau…, Wie war das noch mit dem Fußballspiel im Rheinland, bei dem du eingesprungen bist … und wie hieß noch der Bauer, der die Marktkasse komplett verzockt hat? Unzählige Geschichten, und so banal manches auch schien, mein Vater konnte daraus spannende Ereignisse machen, die uns alle in ihren Bann zogen.
Das Fahren, das Wandern, das heute hier und morgen dort, ist nicht nur eine Vorbedingung für die Erzählkunst, die selbstverständlich nicht nur aus der geographischen Veränderung zu erklären ist, sondern auch aus der mündlichen Erzähltradition, deren Voraussetzung das ständige Weitererzählen von Erlebnissen ist. Meine Großmutter, genannt der Rote Zar, saß in ihren letzten Jahrzehnten in einem Raum, immer in dem selben Sessel, der einem Thron glich, gestützt auf einen Spazierstock mit einem verzierten Silberknauf, und erzählte die Geschichten, die sie selbst erlebt oder gehört hatte. Die Besuche bei ihr glichen Festivals. Zusammen mit ihrer mächtigen Erscheinung und donnernden Stimme wähnte man sich in einem Märchen, nicht aus tausend und einer Nacht, sondern, dem Ruhrgebiet entsprechend, dem der tausend Feuer. Der rote Zar breitete die Geschichte einer ganzen Epoche vor einem aus, so manches mal auf Plattdeutsch. Mit einer Intensität, die mir noch heute in den Ohren klingt. So manche Formulierung habe ich übernommen, nur für mich, wenn ich alleine und mit mir im Reinen bin. „Du bist nicht allein, aber du musst es selbst machen“. Übrigens eines der Indizien, die nach Flandern führen. Aber das steht auf einem anderen Blatt.
Das Spirituelle, das aus der Existenz von Fahrenden Gesellen resultiert, ist mir geblieben. Der Wunsch, sich zu verändern, sich unter Menschen zu wagen und das Profane als spannende Episoden zu erleben und daraus die Welt zu erklären, das eigene Erleben in einem Mikrokosmos als Form der möglichen Weltdeutung zu erleben, hat mich nie verlassen. Und immer, wenn ich fahrende Gesellen treffe, spreche ich sie an, unterhalte mich mit ihnen und denke an die Erzählungen meines Vaters. Früh hat er mich verlassen, seine Geschichten sind mir bis heute geblieben.
