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Der geistige Fraß der Zerstörung

Hätte man eine böse Zunge, dann könnte man voller Stolz die Bilanz ziehen: Es ist vollbracht! Gemeint ist das Gericht, das Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts auf den Herd gesetzt wurde und vielleicht einmal als die Ursache für den letztendlichen Zusammenbruch eines politischen Systems bewertet werden kann. Nicht die Ökonomie, die immer als die Basis eines solchen gilt, sondern die langsame, schrittweise Aushöhlung dessen, was den Kapitalismus in einer gewissen historischen Phase so fortschrittlich und bahnbrechend gemacht hatte. An den Besitzverhältnissen hat sich seitdem nicht viel verändert, sieht man einmal von dem astronomischen Reichtum einer Handvoll Menschen auf der einen und der fortschreitenden Armut der großen Masse auf der anderen Seite ab. Aber das System, das den Kapitalismus so revolutionär wie erfolgreich gemacht hatte, entsprang auch der Vorstellung, dass Gleichheit, Solidarität und Freiheit einander bedingten und einer Wechselwirkung unterlagen. 

Es ging um formelle Gleichheit vor dem Gesetz, es ging um die Unterstützung der Schwachen durch die Gemeinschaft und es ging um die Freiheit des Individuums und seiner Entscheidungen. Und das alles fußte auf der Überzeugung, dass das zentrale Maß für alles die Leistung ist. Ganz nach der so treffend von Jean Paul Sartre formulierten Maxime: Die Existenz ist etwas zu Leistendes.

Der geistige Fraß, der dieses Fundament seit nahezu einem halben Jahrhundert zerstört, resultiert aus der damals aufkommenden Überzeugung, dass nicht die Leistung, nicht das, was der Mensch aus sich macht oder was er beiträgt, seinen Wert ausmacht, sondern seine ethnische Zugehörigkeit, seine Hautfarbe, seine individuelle Befindlichkeit und Beschaffenheit. Die Leistung wich der Befindlichkeit, und wenn man sich diese Entwicklung im historischen Kontext und nicht unter den Parteifarben derer, die mit diesem Unsinn begonnen haben und ihn dann kultivierten ansieht, dann handelt es sich streng genommen um eine grundlegende Abkehr von der bürgerlichen und einer Rückkehr zu feudal-despotischen Gesellschaft. Da wurden die Menschen nach Herkunft, Hautfarbe und Beschaffenheit klassifiziert und nicht nach Leistung.

Längst spielen die materiellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft keine Rolle mehr. Weder die Leistungen der Wirtschaft, noch die Beiträge der Bürgerinnen und Bürger und nicht die aus Leistung und dem Vermögen, Leistung zu erbringen resultierenden Interessen. Befindlichkeit und Moral sind die herrschenden Messsysteme, die ihrerseits noch dahingehend pervertiert werden, indem sie nahezu systemisch einen doppelten Boden haben.

Da werden Aktionen anderer beklagt, derer man sich regelmäßig selber schuldig macht, da werden ganze Gesellschaften wie Individuen beargwöhnt und dämonisiert, wie man es aus der Inquisition kannte ohne gleichzeitig einen eigenen Nervenzusammenbruch verhindern zu können, wenn andere aus ihrer Sicht das eigene Handeln kritisieren. Jeden Tag gipfelt das, was einmal als gesellschaftlicher Diskurs bezeichnet wurde, in einem hysterischen Bacchanal gegenseitiger Verleumdungen und Beschuldigungen. Niemand fragt mehr nach Ursache und Wirkung. Keiner arbeitete noch das jeweilige Interesse heraus. Deshalb stehen auch zumeist nur noch Schreihälse auf der Bühne, in der Politik wie im Kabarett und meistens ist nicht mehr zu unterscheiden, was denn nun was ist. Alle hacken aufeinander herum, ohne Sinn und Verstand. Die einzige Leistung, die die Produkte aus der Herrschaft der Befindlichkeit noch zustande bringen, ist die, den jeweiligen Grad der Beleidigung noch zu erhöhen. Respekt, Ehre, Freiheit, Maß – alles dahin.   

Der geistige Fraß der Zerstörung

Das dominante Muster

Seitdem die Globalisierung jeder Einzelexistenz spürbar auf die Pelle gerückt ist, reißen die Diskussionen nicht ab. Es geht um Identitäten und Identitätsverlust. Es geht um Ethnien und Religionen, um sexuelle Orientierung und Ernährungsweisen. Die angeführten Begründungszusammenhänge werden immer absurder, es scheint, als sei die Definition von Identität etwas Willkürliches geworden und es scheint, dass die Zugehörigkeit zu sozialen Kohorten, die sich eindeutig bestimmen lassen, nahezu unmöglich geworden ist, sieht man einmal ab von Arm und Reich, das ist weltweit so deutlich wie nie und spricht ebenfalls Bände. Doch die Diversität eines individuellen Musters, auf das die bürgerliche Gesellschaft so großen Wert legt, sorgt eher für Diffusion. Beispiele wie Bier trinkende und Schnitzel essende Muslime, nationalistisch orientierte Homosexuelle oder den Krieg befürwortende Veganer begegnen uns täglich und es gehört manchmal eine große Contenance dazu, mit dieser schönen bunten Welt entsprechend seriös umgehen zu können.

Die Tatsache, dass eine Vielfalt existiert, die es in früheren Stadien unserer Gesellschaft auch schon gab, die sich aber verstecken musste aus Angst vor der Sanktion, die aber viele Klischees aufbricht, sorgt für die Konfusion. Gerade diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, die sich so sehr und so erfolgreich gegen das Klischee gewehrt haben, klagen heute oft darüber, dass diese Klischees so nicht mehr existieren. Das Ergebnis ist die beschriebene Existenzkrise. Es klingt absurd, aber es scheint den chronischen Widerspruch von Schein und Sein zu treffen. Der Kampf gegen die Klischees führt zu ihrer sukzessiven Auflösung. Die dadurch tatsächlich seltener werdende Existenz des realen Klischees führt zu einer Identitätskrise aller und der Suche nach neuen Klischees. Und die entstehen zuverlässig, wie zu beobachten ist.

Interessant in diesem Prozess ist vor allem die tatsächliche Funktion nationalstaatlicher Identitäten, die immer sehr hoch bewertet wurden, aber in der tatsächlichen Existenz vielleicht gar keine so große Rolle spielen. Einmal abgesehen von Sprache und den damit verbundenen Denkstrukturen und der geographischen Markierung ist bei der beklagten Durchmischung zwar die Ära einer einheitlichen Religion, einer gemeinsamen Vorstellung von Familie oder eines Konsenses über den Stellenwert der Nation dahin, aber es existieren andere, den Alltag bestimmende Muster, in die sich auch die neuen Bürgerinnen und Bürger blendend einfügen und die die vitale Stärke einer nationalen Identität ausmachen. Sie stehen in keinem Gesetzestext und sie sind nirgendwo kodifiziert, aber sie machen das Wesen einer sozialen Assoziation, die wir noch Nation, nennen, sehr deutlich.

Andere Nationen mögen die Frage für sich beantworten, auch wenn es spannend ist, zu vergleichen. Aber ist, um im deutschen Kontext zu bleiben, nicht das kohäsive Muster hierzulande die Organisation? Sie ist das Muster, in dem gedacht wird. Wie sind Prozesse zu organisieren, wer findet sich wo innerhalb der Organisation, was ist der Zweck und wo liegt der Nutzen von Organisation? Und, die wohl wichtigste und jeden Volkssport toppende Frage, welches ist die beste Organisation im Vergleich mit anderen Varianten?

Das war so, das ist so, und es sieht so aus, als sein es auch das Muster für die Zukunft, das selbst von der Globalisierungsvielfalt nicht eliminiert werden kann. Und es ist dieses Muster, das eine große Attraktivität besitzt, die weit größer ist als das Versprechen auf Schweinsbraten und Weißbier, Wacholderschnaps oder Labskaus. Wir sollten uns, mit erkenntnisleitenden Motiven, mehr der Frage der Organisation und ihrer möglichen integrierenden Kraft beschäftigen, als weiterhin in den Sackgassen von Ethnie und Religion herumzulaufen.

Wer gestaltet die Zukunft?

Die Vorstellung, wir lebten in einer Welt, in der sich alles zum Guten wendete, ist ebenso eine Illusion wie der Glaube, das Schlechte gewönne die Überhand. Allzu oft treffen wir auf solche apodiktische Aussagen und nicht selten machen wir sie uns sogar zu eigen. Sicher ist, das nichts bleibt, wie es ist. Ob es besser oder schlechter wird, hängt jedoch davon ab, wie wir Menschen in der Zukunft agieren. Eines hat sich bei dem schwierigen Kalkül um das Existenzielle immer als falsch erwiesen. Es ist die Selbstberuhigung des Einzelnen, er könne nichts ändern. Wie sehr fallen in diesem Zusammenhang die klugen Sätze Bertolt Brechts zurück in eine sich immer chaotischer generierende Welt. Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft, hat bereits verloren. Ja, daran ist etwas, das allzu gerne ausgeblendet wird. Oder Jean Paul Sartre, der es so formulierte: Unsere Existenz ist eine zu leistende. 

Die Verantwortung des Individuums hat ihren eigenen Fokus. Der ist nicht so klein, wie die Defätisten dieser Welt so gerne glauben machen möchten. Es geht um einen Mikrokosmos. Jeder, der sich zu seiner Verantwortung für ihn bekannt, hat sich Aktiva der Geschichte gesichert. Auch da können wir bei Brecht bleiben, der zu Recht fragte, ob die Großen der Geschichte nicht wenigstens einen Koch bei ihren Eroberungen dabei gehabt hätten. Ja, die Köche und Maurer, die Sekretärinnen und Unternehmerinnen, die Müllwerker und Schauspielerinnen, sie alle drehen mit am Rad, am großen Rad der Geschichte, wenn sie sich nur dessen bewusst sind. Es geht um das Bewusstsein, ob der Mensch zum Subjekt wird, das handelnd in die Geschehnisse eingreift.

Was temporär immer wieder gelingt, ist das falsche Bild in das kollektive Gedächtnis zu hieven, das da besagt, die Namen derer seien es, die überall im Spiegelkabinett der Öffentlichkeit sichtbar sind, die den Lauf der Dinge bestimmten. Seht sie euch an, seht sie euch genau an. Nicht, dass auch manche dort im Olymp der Medialität weilten, weil sie nichts zu bieten hätten. Aber das Gros, das Gros weilt dort, weil sie etwas vermissen lassen, dass das andere Gros, nämlich das derer, die noch eine Vorstellung von Leistung haben, vor Schamgefühl zum Schweigen bringt. Wem Bedeutung beigemessen wird, ohne dass er oder sie etwas geleistet hätte, ist ein propagandistisches Trugbild für eine Welt, die keinen Bestand hat. Leben ohne Leistung des Individuums eignet sich nicht für die Geschichte. Es eignet sich allenfalls für die Absurdität eines Daseins ohne Identität.

Köche, Maurer, Sekretärinnen, Schauspielerinnen, Unternehmerinnen und Müllwerker haben beste Voraussetzungen, sich ihrer Identität bewusst zu werden und den Hasardeuren der Schnelllebigkeit etwas entgegen zu setzen, weil sie Werte schaffen, von denen alle etwas haben. Und die Art und Weise, wie sie diese Werte schaffen, bestimmt das Gesicht einer Gesellschaft mehr als alles andere. Die Gesellschaft, in der wir leben, scheint oft ohne innere Werte zu sein, weil sie in Zusammenhang gebracht wird mit denjenigen, die auf dem Rücken derer, die sie am Laufen halten, gleichgesetzt wird. Auch das ist ein Trugschluss. Und diejenigen, die diesen Trugschluss aufrecht erhalten wollen, gehören nicht zu denjenigen, mit denen sich Zukunft gestalten lässt. Wer Werte schafft, wer gestaltet, wer etwas leistet, arbeitet an der Zukunft. Wer nur gierig auf die Coupons schielt, die diese Rendite sichern,  gehört schlichtweg nicht dazu.