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EU-Wahlen: Gute Tage sehen anders aus

Nun sind alle Katzen aus dem Sack. In Europa ist gewählt worden. Und, das sollte nicht unter den Tisch fallen, es wurden die Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt. Das birgt einige Implikationen, ist aber dennoch vom Betroffenheitsgrad der Bürgerinnen und Bürger nicht so entscheidend wie nationale Wahlen. Die Ergebnisse entsprechen dem, was eigentlich alle erwartet hatten. Zum einen wurde der Trend bestätigt, dass sich viele Menschen in der EU um ihr eigenes Land sorgen und dem Gedanken eines Europas, das auch als Regierungssystem stattfindet, zunehmend skeptisch gegenüber stehen. Nahezu psychoanalytisch muss ein Faktum bewertet werden, das sowohl den Wahlkampf als auch letztendlich die Stimmabgabe bestimmt hat und von den großen Parteien, die momentan die Politik der EU zu verantworten haben, nahezu gar nicht thematisiert wurde. Es handelt sich dabei um die Frage von Krieg und Frieden und die  Auswirkungen des Neoliberalismus auf die Gemeinwesen. Da wurde so geredet, als sei das alles gesetzt und in Ordnung. Und genau das hat viele Menschen motiviert, so zu wählen, wie sie es getan haben. Auch wenn die unterschiedlichen Gewinner zum Teil nur eine einzige Attraktion aufwiesen, nämlich die, die anderen zu ärgern.

Hört man sich die Analysen derer an, die gravierende Verluste zu verbuchen hatten, dann offenbart sich ein Potpourri aus hilflosem Gestammel und massiver Publikumsbeschimpfung. Wenn sich bei der Lektüre dieser Analysen eine Erkenntnis aufdrängt, dann ist es die Diagnose von Lernunfähigkeit und/oder Unwille. Weder werden die großen Linien der praktizierten Europa-Politik einer kritischen Analyse unterzogen, noch wird die eigene Einstellung gegenüber dem Souverän thematisiert. Denn da liegen die Verhältnisse im Argen. Die Liaison von EU und NATO als synchron operierende Formationen, die von den USA administriert werden, hat zu einer existenziellen Krise geführt. Und, als zweitem Punkt, die Reklamation des Anspruchs durch die EU wie die national in der Verantwortung stehenden Funktionäre, besser zu wissen, wann der Souverän seine verbrieften Rechte in Anspruch nehmen darf und wann nicht, haben zu einem tiefen Vertrauensverlust geführt. Die Reaktionen aus den verschiedenen durch die Wahl gerupften Lagern dokumentieren, dass diese Botschaft nicht angekommen ist. 

Die tatsächlichen Ergebnisse sind, was den Fortbestand der gegenwärtigen Regierungsführung anbetrifft, nicht so dramatisch, wie beschrieben – für diejenigen, die so weiter machen wollen, wie bisher. Sie werden sich zusammenraufen und vor allem die europäischen Sicherheitsinteressen denen einer um globale Dominanz kämpfenden USA unterordnen. Und sie werden an dem Diktum festhalten, dass gute Regierungsführung nach dem System von Regel und Sanktion zu funktionieren hat. Die Freiheit und das Recht derer, die in diesem Verbund versammelt sind, wird weiterhin von einem immer ausufernderen bürokratischen Aufwand systemisch minimiert.

Die Freude derer über die Bestrafung derjenigen, die die aktuelle Politik zu verantworten haben, sollte sich angesichts dieser Betrachtung in Grenzen halten. Besser werden die Verhältnisse nicht, grundsätzlich wird sich nichts ändern. Auch wenn es emotional durchaus zu befreienden Gefühlen kommen kann, wenn eine Partei, die bei den letzten Wahlen als Friedensstifterin aufgetreten ist, um danach zu einem zähnefletschenden Kriegsensemble ohne jede Idee einer Friedensordnung zu werden, die größten Verluste zu verbuchen hat. Und vor allem bei den ganz Jungen, auf die sie gesetzt hat. So, wie es scheint, ist der Souverän mal wieder klüger als die Blasenbewohner aus den Parteizentralen. Gute Tage sehen anders aus. Auch wenn heute die Sonne scheint.  

Das ganze Elend Europas

Ulrike Guérot, Hauke Ritz, Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – Und wie wir wieder davon träumen können

Manchmal reicht eine Talkshow, um aus einer veritablen Wissenschaftlerin einen Paria zu machen. So ist es Ulrike Guérot widerfahren, als sie den Fehler begangen hat, einer Einladung in die Sendung eines Markus Lanz zu folgen und sich dort von einem Konsortium von Kriegsbefürwortern auf den Anklagestuhl setzen zu lassen. Sie besaß dort nämlich die Frechheit, nach der Vorgeschichte und den Ursachen des Ukrainekrieges zu fragen und sprach dann noch die Notwendigkeit aus, diesen Krieg so schnell wie möglich beenden zu müssen. Kurz danach fragten bereits die ersten Eiferer, ob so ein Mensch eine Professur an einer deutschen Universität innehaben könne. Damit war ein Szenario entstanden, dem die Beklagte nun, zusammen mit dem Autor Hauke Ritz, in Form eines Buches zu begegnen sucht. Es handelt sich dabei um „Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können.“ 

Was zunächst, gemessen an den täglichen Nachrichten, wie eine ferne Angelegenheit erscheint, ist eng mit den heutigen Zuständen verbunden. Die beiden Autoren erzählen noch einmal die Geschichte eines europäischen Einheitsgedankens, der durch die Verheerungen von zwei Weltkriegen gespeist wurde und der durch die Versöhnung Deutschlands und Frankreichs und durch deren gemeinsames Vorgehen in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts Fahrt aufnahm. Alles, was bis vor wenigen Jahren als die Errungenschaften einer europäischen Einigung erlebt wurde, stammt aus dieser Zeit. Von der Überwindung der Grenzen bis hin zu einer einheitlichen Währung wurden große Schritte gegangen, die getragen waren von einer Vision, die als Erfüllung der europäischen Aufklärung anzusehen waren, von der Friedfertigkeit bis zur Pluralität, von autonomer Regionalität bis hin zu bundesstaatlicher Handlungsfähigkeit. 

Die Zäsur bildete das Ende des Kalten Krieges, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die deutsche Einheit. In den USA, und damit kommen die Autoren zur Sollbruchstelle des Ganzen, sprach man vom Ende der Geschichte und schaute auf ein amerikanisches Zeitalter, das sich sehr schnell als ein Debakel für Europa entpuppte. Während die angelsächsische Welt an der alten Imperial-Theorie festhielt, einen Keil zwischen Russland und Rest-Europa treiben zu müssen, fand  dieses Rest-Europa nicht die Stärke, die eigenen Interessen in eine Politik der Selbstbestimmung und Selbstverortung münden zu lassen. Mit dem Regime Change in der Ukraine 2008 und der Zerreißprobe dieses Landes 2014 begann eine Periode der militärischen Aufrüstung, die umso mehr beeindruckt, als dass die wenigen Seiten in dem Buch durch die kalte Aufreihung der Manöver, Waffenlieferungen, Aufrüstungserklärungen etc. einem das bloße Entsetzen in die Augen treiben und das vorherrschende Narrativ von dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine als nackten Zynismus erscheinen lassen.

Europa, um das es in diesem Buch geht, hat in diesem Konflikt, der die Notwendigkeit für Europa negiert, Frieden nur mit und nicht ohne oder gegen Russland gestalten zu können, sein Gesicht verloren. Alles, was unter der Vision der europäischen Einigung in den Köpfen vorherrschte, Frieden, Demokratie, der Diskurs um die Wahrheit, die Toleranz und der Respekt, liegt nun din Trümmern auf einem Kriegspfad. Europa huldigt dem Nationalismus, Europa beschließt Sanktionen, Europa liefert Waffen.

Wie Europa wieder zu sich selbst finden könnte, das wird in einem letzten Kapitel beschrieben und sei all denen empfohlen, die in diesen vergifteten Zeiten die Hoffnung nicht aufgegeben haben. Es ist ein mutiges Buch, das nicht nur lesenswert ist, weil es den Konnex von einer formulierten Imperial-Theorie und einem strategischen Vakuum mit seinen dramatischen Folgen darlegt, sondern auch den ganzen Unsinn widerlegt, mit dem die klugen Köpfe Europas täglich belästigt werden.