Der frühe Münchner und später New Yorker Schriftsteller Oskar Maria Graf, der in Berg am Starnberger See aufgewachsen war und das bäuerliche Leben von der Pike auf kennengelernt hatte, wandte gerne die Methode an, die großen Namen und komplexen Theorien so zu transformieren, dass sie in die bäuerlich-bayrische Lebenswelt passten. So wurde aus dem großen Goethe das Goethe Wolferl und dem dunklen Heidegger der Heidegger Martl und die jeweiligen Werke in den bayrischen Dialekt und die bayrische Lebenswelt übersetzt. Das entzauberte mächtig und oft blieb schon dort nicht mehr viel übrig von der alles erhabenen Theorie.
Dennoch, auch das 20. Jahrhundert konnte von sich noch behaupten, reich an Konzeptionen zu sein, die versuchten, die Welt zu erklären und zu gestalten. Das war so in der politischen Theorie wie in der Kunst. Überall, wo sich Menschen einfanden, um fortzuschreiten aus dem Jetzt, da gab es Systeme, die das Ist erklärten und das Neue konturierten. In der Politik waren das z.B. Marxismus, Liberalismus, Darwinismus, Kritischer Rationalismus und in der Kunst z.B. Avantgarde, Neue Sachlichkeit, Realismus. Die Diskussionen waren heftig und es wurde gerungen. Aber, und das ist das Prädikt für das Folgende, man ging davon aus, dass die Menschen Subjekte waren, die ihr Schicksal bewusst gestalten konnten.
Und heute, in der Welt des emotionalen Digitalismus, scheint das alles wie ausradiert. Da heißt es einerseits, die Welt ist so komplex geworden, dass man sie nicht einfach erklären kann. Andererseits bekommt man aber auch für das Fordern nach Konzepten die Antwort, es sei alles viel zu komplex, als dass man es konzeptionell erfassen könnte. Und der eingangs zitierte Oskar Maria Graf würde vor Freude und Spott überschäumen, wenn er die dürftigen Erklärungen erführe, mit denen der so genannte „Überbau“, d.h. die große Denkfabrik der Gesellschaft, heute operiert. Da ist das, was gerade passiert, das Konzept selbst, und in der Kunst sind es plötzlich die Gebäude, die das einzelne Werk in seinem Gesamtarrangement erklären. Ja, so würde er dann wohl schreiben, „wenn dir nichts mehr einfällt, dann bläst du halt die Backen auf und tust ganz wichtig, vielleicht finden sich dann doch ein paar Flachköpfe, die darauf hereineinfallen.“ (Bayrischer Dialekt vom Autor nicht oder nur schlecht imitierbar)
Also das Ist ist das Werk selbst, die Substanz des Daseins, um es nun in einer anderen Sprache zu dokumentieren, die Substanz des Daseins ist die Komplexität des Zufalls. Und um diese Aussage in eine zeitgenössisch durchaus geläufige Sprache zu übersetzen: weder der Philosophie, noch der Gesellschaftstheorie und erst recht nicht der Kunsttheorie fallen Konzepte ein, die der Analyse fähig wären oder zu einer Vision inspirierten. Vielleicht kursieren deshalb so viele Negativszenarien, in denen sich die Technik verselbständigt hat und den Menschen und sein ganzes soziales und kulturelles Gesumms einfach schreddert.
Und irgendwie ergibt sich aus dieser Betrachtung dann doch ein Sinn oder eine Deutung, die gar nicht so abwegig erscheint. Die Apotheose des Werkzeugs zur Herrschaft ist wahrscheinlich die Erklärung dafür, dass der Mensch bereits wieder auf das Objekt reduziert ist. Und wozu brauchen Objekte eine Theorie? Sie werden von höheren, ihnen überlegenen Mächten verwaltet.
Allein diese Erkenntnis sollte genügen, um sich etwas fundamentaler mit dem Dilemma zu befassen, das durch das Fehlen von Konzeptionen sichtbar wird.
