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Ein Tor für die Hall of Fame und Kollektivkunst aus Italien

Der Verlauf der EM hat eigentlich keine Überraschungen zutage gefördert. Kühl betrachtet, haben die großen Stämme ihr erstes Ritual absolviert. Frankreich, England, Spanien und Deutschland haben das mit der Ausnahme Englands ganz routiniert abgewickelt. England ist traditionell die Ausnahme, in der eigenen Sprache könnte man es das Big-Mouth-Phänomen nennen, sie fahren mit großen Vorschusslorbeeren zu einem Turnier und sind sehr schnell auf dem Boden der Tatsachen zurück. Gegen Russland spielte England im Gegensatz zu früheren Weisen erfrischend, aber es reichte dennoch nicht gegen ein monolithisch dastehendes Russland.

Bei Frankreich wird sich zeigen, welches Tempo es noch aufnehmen kann, wahrscheinlich mehr als Spanien, das sich sehr schwer tat. Dennoch ist die spanische Substanz nicht zu unterschätzen, aber die These ist, dass dort vieles vom Zufall abhängen wird. Die deutsche Mannschaft zeigte Höhen und Tiefen, aber mit den beiden Toren genau die Qualität: die Jungen rücken bereits nach und die Alten sind noch lange nicht abgemeldet. Weder Angriff noch Abwehr überzeugten, aber beide Reihen zeigten Qualität in Stresssituationen. Das Mittelfeld, in dem neben den Spielern, die überzeugen konnten immer noch das Özil-Potenzial schlummert, das außer bei dem grandiosen Zuspiel beim 2:0 nicht aufleuchtete, weist auch noch Perspektiven nach vorne.

Das 2:0 durch Sebastian Schweinsteiger war das erste richtige Highlight des Turniers, weil es den Stoff barg, aus dem Legenden geformt werden. Der verletzte, der lädierte Held von Rio, der in der post-heroischen Ära noch einmal gezeigt hatte, dass es mit Brillanz und Hedonismus alleine eben nicht geht, dieser Held, auf den die zu Unrecht gehandelten Experten keinen Pfifferling mehr gaben, der kam drei Minuten vor Schluss auf den Platz und war 120 Sekunden später der Held des Abends. Zu Recht. Schon jetzt steht dieses Tor bereits in der Hall of Fame. Da fällt, ganz im Sinne des zitierten Heroismus, eben doch das alte Lied ein, Old soldiers never die, they just fade away…

Den mannschaftlich grandiosen Akzent jedoch setzte Italien. Die große, die ganz große Fußballnation hat mit ihrem Auftritt gegen die hoch gehandelten und von den Marktschreiern wieder einmal als Geheimfavorit titulierten Belgier eine alte Regel bemüht und eiskalt verifiziert: Wenn Italien vor einem Turnier schlecht gehandelt wird und es bei niemandem auf dem Zettel steht, dann sind sie plötzlich da und spielen sich in den Himmel. Das hochkarätige belgische Individualistenensemble wurde relativ hilfloses Opfer gegen taktische Finesse, technische Präzision, strategische Genialität und einen guten, überzeugenden Mannschaftsgeist. Das war nicht mehr die große Oper, die noch mit einem Pirlo versucht wurde zu inszenieren, sondern Kollektivkunst, die aber dennoch in der Lage war, ästhetische Qualität hervorzubringen, denn beide Tore waren eine Augenweide. Italien spielte zwar kein neues, sondern ein sehr altes System, aber es wählte diese Variante, um genau den Gegner, der auf dem Platz stand, die Zähne zu ziehen. Einfach, genial und erfolgreich.

Die EM bleibt ein Abbild des Kontinents. Wenig Innovation, große Bemühungen, Besitzstände zu verteidigen, aber auch große Traditionen und wunderbares Handwerk. Es gilt, mit diesem Mix wohl über eine bestimmte Zeit hinweg leben zu müssen. Zumindest bis zum Ende dieses Turniers.

Ein trauriges und ein dummes Gesicht

Bis jetzt hat die Europameisterschaft nichts gezeigt, was auf eine Weiterentwicklung des Fußballs hindeutet. Stattdessen unterstützt der bisherige Verlauf die These, dass im Sinne einer Diagnostik doch einiges festgestellt werden kann. Aber die diagnostischen Resultate beziehen sich weniger auf das, was auf dem Platz geschieht, als auf die Organisation und die so genannte Kultur in den Verkehrsformen in den Stadien, um die Stadien herum und auf den Kommunikationskanälen.

Auf dem Platz war bis jetzt nichts Neues zu sehen. Frankreich debütierte mühselig und ohne System, die Schweiz rettete sich gegen Albanien mit einem guten Torwart und England zeigte wieder einmal mehr, dass das Getöse der Ankündigung wesentlich lauter ist als das, was hinterher auf dem Platz zu beobachten ist. Bis jetzt hat Wales gezeigt, dass sich Enthusiasmus, ein Superstar und der Wille von Edelamateuren zu etwas formen lassen, das sich mit Spaß ansehen lässt.

Das, was nicht als Fortschritt präsentiert werden konnte, brillierte im Rückschritt. Um aus der EM ein neues Kapitel anti-russischer Propaganda zu machen, dazu bedurfte es vor allem randalierender englischer Fans in Marseille, eines tosendes Pfeifkonzerts selbigen Mobs beim Abspielen der russischen Hymne und eines ZDF-Reporters, der das Spiel Russland gegen England zu einem Festival des Ressentiments machte.

Wäre das Spiel nach den Begutachtungen des Scharlatans, der das Spiel kommentierte gegangen, dann hätte das Spiel mit 17:0 für England ausgehen müssen. Es endete allerdings 1:1. Das mag nun von denen erklärt werden, die sich dafür berufen fühlen. England blieb schlicht vieles schuldig, was niemand eingestehen wollte. Russland spielte taktisch einen überschaubaren Fußball, der keinerlei großartige Idee vermittelte, aber ausreichte, um dem hochgepimpten Favoriten die Suppe zu versalzen. Bleibt abzuwarten, ob noch etwas von diesem Turnier zu vermelden ist, was in fußballerischer Hinsicht interessant wäre.

Dafür darf aus dem fernen Louisville in Kentucky berichtet werden, dass dem türkischen Präsidenten Erdogan einmal gezeigt wurde, wer die Tischsitten bestimmt. Das hat natürlich nichts mit der EM zu tun, aber mit dem traurigen Bild, das Europa momentan vermittelt schon. Besagter Erdogan wollte nämlich das Begräbnis Muhammad Alis nutzen und zu einer Propagandaschau für sein immer unberechenbareres Ego machen. Er hatte geplant, vor Alis Grab Verse aus dem Koran zu zitieren und eine kostbare Reliquie aus Mekka auf den Sarg zu legen. Das mit dem Sarg hätte ihn schon etwas skeptisch stimmen sollen, denn Muslime benutzen so etwas bekanntlich nicht. Aber das ist auch nur ein Nebenaspekt.

Jedenfalls landete Erdogan mit seiner Entourage, unter der sich wie selbstverständlich seine Bodyguards befanden, in den USA und verkündete den Organisatoren von Alis Beisetzung seine Pläne. Diese teilten ihm trocken mit, dass die Zeremonie so durchgeführt werde, wie Ali es gewollt hätte und keine Veränderungen vorgenommen werden würden. Als sich der Mann, der keinen Widerstand gewohnt ist, umrahmt von seinen Schlägern, aufzuplustern begann, tauchte eine Abteilung des FBI auf und bat ihn um ein Gespräch. Dieses Gespräch kann am besten mit der Formulierung beschrieben werden, dass ihm gehörig heimgeleuchtet wurde. Überliefert ist nur, dass gerade noch einmal Zeit blieb, um seine Maschine wieder aufzutanken, bevor der ganze Tross sich wieder in der Luft Richtung Türkei befand.

Was lehrte dieses Wochenende bisher? Europa hat eine ernsthafte politische Krise und der türkische Potentat beginnt sich mit dem Imperium anzulegen. Wäre er noch lernfähig, so müsste er nun wissen, dass er nicht nur schnell wieder in den Lüften schwebte, sondern so langsam auch ganz ernsthaft in Lebensgefahr. Doch auch das wissen wir: je größer die Macht, desto schwerer tut man sich mit dem Lernen.

Das Fieber steigt

Wenn auch nicht alle, so haben sich bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 viele Leserinnen und Leser dieses Blogs als sehr am Fußball Interessierte herausgestellt. Das für mich selbst sehr Schöne an dieser Erkenntnis war, dass sich eine Diskussion um diesen Sport und dieses Turnier entfalten konnte, die eben nicht die furchtbare Ökonomie, die korrupte Bürokratie und die einfältigen Nationalismen und Ressentiments ausblendete, die ein solches Ereignis auch sehr stark bestimmen. Und dennoch, es ist uns hier damals gelungen, die Faszinationskraft dieses Spiels und seiner unzähligen Varianten immer wieder zu entschlüsseln und die große Metaphorik, die der Fußball in der Lage ist zu schaffen, zu feiern.

Nun, zwei Jahre später, am Tag der Eröffnung der Europameisterschaft in Frankreich, stellt sich die Frage, ob dieses Turnier wieder eine solche Episode der diskursiven Übung hervorbringen kann. Bis jetzt bin ich skeptisch. Da sind die Nachwehen der WM, die den Bundesliga-Alltag zu einer relativ langweiligen Veranstaltung gemacht haben, weil die Monopolbildung so weit fortgeschritten ist, dass nur noch interessiert, wer letztendlich den Löffel abgibt und nicht, wer das Rennen macht. Und da sind immer wieder Terroranschläge, die in ihrer psychischen wie physischen Verheerung noch sehr viel diabolische Wirkung nach oben haben. Und da ist natürlich eine Weltmeisterelf, die nach dem Triumph ohne große Euphorie in den Niederungen wieder ankam.

Trotz einer gewissen Skepsis, die allerdings sehr schnell verfliegen kann, sobald ein Team beginnt, den Zauber zurück zu holen, bleibt eines wiederum so spannend wie immer. Es handelt sich dabei um die Frage, was sich im Fußball bzw. in der Art, Fußball zu spielen verändert hat und was diese Veränderung aussagt über die Gesellschaften. Das ist die politische Dimension des Ganzen, und, ehrlich gesagt, mich persönlich interessiert das am meisten. Und, offen gestanden, auch, ob es Akteure geben wird, die in die große Reihe der Magier eintreten können, die immer wieder junge Menschen dazu inspirieren können, einen Traum zu leben, trotz einer furchtbaren Tristesse, die sie umgibt.

Und es wird wieder erschreckende Erkenntnisse darüber geben, wer das Spiel wie zu missbrauchen gedenkt, um sein eigenes, unwürdiges Spiel attraktiver zu gestalten. Hier in Deutschland hat die neue Rechte damit begonnen, einzelne Spieler zu diskreditieren, weil ihre DNA anders gelagert ist als die arische aus dem Ideologielabor. Wir alle wissen, dass das anachronistischer Schwachsinn ist, der zur Barbarei führt. Aber wir wissen auch, wie schnell sich dieses Gift in der Lage ist, fortzupflanzen. Insofern wäre wünschenswert, dass die Ensembles, die einer modernen Form des Bürgertums entsprechen, sehr erfolgreich sind. Denn der wirkungsvollste Treibstoff für die Motivation, einen Weg weiter gehen zu wollen, kommt aus dem Erfolg. Mögen die Teams, die Toleranz symbolisieren, die erfolgreichsten sein!

Das Wägen hat in einigen Stunden ein Ende. Vieles wird hier, in Germanistan, auch wie immer sein. Noch ist alles ruhig, aber in wenigen Stunden fahren die Konvois zu den Getränkemärkten, um die heimischen Depots zu versorgen, und in wenigen Stunden wird das Wetthissen von Fahnen beginnen, wo zu lesen ist, dass die benachbarte Italienerin einen Portugiesen geheiratet hat, sich die spanischen Nachbarn immer noch gerne etwas isolieren wie auf ihrer Halbinsel, die Kroaten dagegen noch nie Berührungsängste hatten, die Türken die Fahne heraushängen, obwohl sie kräftig blutet und der einsame Schwede mit einem Hörnerhelm auf dem Balkon steht und alle hoffen, dass er den Anpfiff noch erlebt und die Briten, auch wie immer, schon den Titel feiern, bevor das alles begonnen hat. Ok, ich merke, wie das Fieber steigt…