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Eine große Community, die mit dem Feuer spielt?

Angesichts der Ereignisse in der Türkei ist hier in Deutschland etwas zu erleben, das beunruhigt und als Erscheinung nicht unbeobachtet werden darf. Das Verhalten und die politischen Statements von Türkinnen und Türken mit Residenzstatus und vor allem mit deutschem Paß, die geprägt sind von einem patriotischen Verhältnis zur Türkei und einer Gutheißung der diktatorischen Politik des Präsidenten Erdogan tragen dazu bei, dass immer mehr Menschen tief verstört sind. Äußerungen und Hinweise, die besagen, dass eine politische Einstellung, die das gutheißt, hier nicht mehr willkommen ist und dass eine derartige Auffassung ein guter Grund sei, Deutschland wieder zu verlassen und in das gelobte Land zurückzugehen mehren sich inflationär. Es handelt sich dabei nicht um jene ewig Skeptischen gegenüber dem Fremden, sondern um sehr vernünftige Leute, die allerdings mit Werten nicht jonglieren wie mit den Titeln in den Popcharts.

Es wäre eine Illusion, zu glauben, diejenigen, die hier in Deutschland seit wie vielen Jahrzehnten auch immer schon leben, hätten mit dem Land ihrer Herkunft emotional nichts mehr zu tun. Das hat noch keine Migrationswelle geschafft und es wäre neu. Ausgewanderte finden sich immer in der neuen Heimat zusammen, sie bilden Communities, die als Teil ihrer Identität funktionieren und als Stütze bei den Versuchen der Integration helfen. Je größer die Zahl der Eingewanderten ist, desto größer diese Communities und desto einflussreicher werden sie in dem neuen Land. Ein Blick auf die USA, dem Einwanderungsland schlechthin, sollte genügen, um zu zeigen, was diese Communities vermögen. Die irischen und italienischen Netzwerke hielten nicht nur organisierten Kontakt zur Heimat, sie beherrschten und beherrschen auch ganze Branchen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Ein Patriotismus gegenüber der alten Heimat bleibt, und auch das kann als eine Bereicherung für die neue Gesellschaft gelten.

Da wir in Zeiten leben, in denen immer wieder von roten Linien gesprochen wird, die überschritten werden, bietet sich diese Metapher an. In den USA gab es eine rote Linie, als in Deutschland die Weimarer Republik zertrümmert wurde und eine Diktatur viele Deutsche, die ihres Lebens nicht mehr sicher waren dazu zwang, das Land zu verlassen. Die deutsche Community, so zerstritten sie auch war – übrigens eine übliche Erscheinung des Exils – definierte für sich sehr schnell die rote Linie. Sympathien für dieses Deutschland als politischem System dürfte es nicht geben. Auch das Gastland USA signalisierte sofort, dass es keine Kollaboration der Deutscheinwanderer mit dem neuen Regime dulde. Nur zur Illustration: Oskar Maria Graf, der Exilierte, hielt eine Rede in Chicago vor 4000 Deutschen mit dem Titel: Das deutsche Volk und Hitlers Krieg.

Patriotismus ohne Bezug auf das politische System kann es in diesen Tagen nicht geben. Patriotismus ist einerseits ein Bekenntnis zur ethnischen und kulturellen Identität, er kann aber nicht vermengt werden mit einem Regime, das alle Werte der neuen Heimat mit Füßen tritt. Es ist die Aufgabe, denen, die in diese Gesellschaft gehören und die nun diesem unkritischen Reflex folgen, klarzumachen, dass die Toleranz in diesem Punkt aufhört. Die Stimmen, die ihnen raten, wieder zurück nach Hause zu gehen, sind bereits laut, sehr laut. Und wie es scheint, bewirken sie nichts. Es wäre schade, wenn die Vehöhnung der demokratischen Rechte dazu beitrüge, nicht nur die Vernünftigen gegen sich aufzubringen, sondern auch die alten Ressentiments aus dem Keller zu holen. Auch dafür existieren erste Anzeichen. Eine große Community, die mit dem Feuer spielt? Nicht auszumalen!

Interesse versus Mystik, Tabu und Angst

Plötzlich erscheint vieles in einem anderen Licht. Selbst der Zaun zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten verliert für viele das Unfassbare. Jetzt sind hier, im Herzen Europas, plötzlich Verhältnisse, die sonst nur aus der Ferne bekannt waren und die dazu führten, dass sich die besser wissenden Seelchen darüber empören konnten, wie roh doch auf das eine oder andere reagiert wurde und wird. Die Erkenntnis, die sich jetzt Bahn bricht, ist eine andere, auch wenn sie immer noch nicht zum Umdenken führt: Die Welt ist roh, und sie wird es wohl auch bleiben. Dennoch bleiben diejenigen, die sich schon immer einen einwandfreien moralischen Standpunkt gesichert haben, auf der sicheren Seite und diejenigen, die mit einbetoniertem Kompass die Welt erklärten, weiterhin unangefochten im Recht. Mit kritischem Denken, mit einer Analyse, die den Namen verdient, hat das nichts zu tun. Aber das Lavieren zwischen Einsicht, Opportunität und Populismus wird zumindest hierzulande immer noch mit Wiederwahl belohnt.

Alle, die jetzt mit einfachen Erklärungen aufwarten, sollten sich über eines im Klaren sein. So einfach, wie vieles erscheint, ist es dann doch nicht. Eine wesentliche Ursache für die teils desolate, teils moderate, aber auf jeden Fall dramatisch ungleiche Situation auf dem Balkan war die Zerschlagung Jugoslawiens. Und die Staaten, die von der Bundesrepublik Deutschland besonders unterstützt wurden, haben die schlimmste Diskrepanz zwischen superreichen Minderheiten und total pauperisierten Massen. Dennoch existiert eine Wanderungsbewegung Richtung Zentraleuropa aus nahezu allen Staaten des heutigen Balkans.

Natürlich ist die Bundesrepublik ein reiches Land. Und natürlich sind die Zahlen von Flüchtlingen, die das Land erreichen, nichts im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. Und dennoch waren weder die Bewohnerinnen und Bewohner noch die Behörden eine derartige akute Anreise nicht gewohnt. Die Verhältnisse polarisieren eine alternde Gesellschaft, die lieber den Besitzstand wahrt als ans Teilen zu denkt. Dabei wird vergessen, dass die Einwanderung ein positiver Impuls sein kann, wenn er als solches erkannt und genutzt wird. Momentan noch herrscht das Diktum des Ungewollten und der Bedrohung. Es ist damit zu rechnen, dass bei einer Justierung der Kapazitäten und der Etablierung der Routinen die Hysterie, die derweilen auf allen Seiten festzustellen ist, nachlassen wird.

Die entscheidende Frage, die darüber entscheidet, inwieweit irgendwann doch die Gesellschaft aufgrund der kommenden Herausforderungen emotional kollabiert, ist die Ausrichtung der Außenpolitik. Der Zusammenhang zwischen eigener Außenpolitik und den Herausforderungen, mit denen jetzt das Inland konfrontiert ist, wird noch nicht in dem Maße wahrgenommen, wie es das verdient hat. So klar es zu sein scheint, dass sowohl Großbritannien als auch Frankreich immer noch und immer wieder Reaktionswellen aus den ehemaligen Kolonien erhalten, so unklar ist, dass eine bestimmte Bündnispolitik, die Destabilisierung von ganzen Regionen und Staaten, der sukzessive Rückzug aus der Entwicklungspolitik und der massive, als Junktim verhandelte Standpunkt wirtschaftsliberalistischer „Reformen“ maßgeblich zu Zuständen geführt haben und führen werden, wie sie momentan als Migrationsbewegung erlebt wird. Jeder, auch Staaten, sind verantwortlich für das, was sie tun und für das, was sie nicht tun.

Es wird darauf ankommen, über eine Einwanderungsdiskussion, die den Namen verdient, Mystik, Tabus und Ängste aus dem Spiel zu nehmen und humorlos immer wieder die Frage zu stellen, was das Land in wessen Interesse international unternimmt und in wessen Interesse bei einer Einwanderungspolitik welche Position eingenommen wird. Das wird nicht lustig sein, aber vieles klären. Eine Nation, ein Staat, kann sich nicht Positionieren durch Andeutungen und dumpfe Gefühle.

Paris an der Spree, Krakau an der Ruhr und der Balkan am Neckar

Wenn die Formulierung zutrifft, dann jetzt. So, als gäbe es kein Morgen mehr, wird hierzulande wieder einmal über die Einwanderung schwadroniert. Als wäre es nicht seit Jahrzehnten klar, dass unser geliebtes Germanistan im Herzen Europas mitten im Strom der Migrationszüge läge, wie es in der Vergangenheit nämlich auch schon immer war, mit mindestens zehn Nachbarn, mit einem Hin und Her von Ost nach West und von Süd nach Nord, mit ungeheuren Bereicherungen und gewaltigen Integrationsleistungen, kommen jetzt in der Diktion von irgendwelchen politischen Topfpflanzen die Zuwendungserschleicher aus Transsylvanien und der Walachei und frönen der Trunksucht und Völlerei auf unsere Kosten und schänden unsere Töchter.

Da stellt sich doch zu Recht die Frage nach Zurechnungsfähigkeit. Wie kann es sein, dass ein Zentrum der globalen Hochtechnologie, des Erfindergeistes und der Trendahnung bewohnt wird von zivilisationsfernen Horden, die die Ränder der Mittelgebirge säumen und tatsächlich mit der Routine demokratischer Wahlen vertraut sind und sich tatsächlich von derartigen Geschichten wie den gerade kursierenden beeinflussen lassen in ihrem Urteil über den Zustand und die Perspektive unseres Gemeinwesens. Da hilft es wenig, dass es immer so ist, d.h. diejenigen, die am weitesten weg wohnen von den Gebieten, wohin die Neuen kommen, sind diejenigen, die am heftigsten dagegen sind. Schön zu sehen im benachbarten Frankreich, wo es genauso funktioniert.

Die logische Folge wären die Organisatin eines neuen Massentourismus, der unter dem Slogan „Deutschland, das Treibhaus fremder Wurzeln“ fungieren könnte. Es sollten Busreisen vom bayrischen Wald ins Ruhrgebiet organisiert werden, wo allein der Besuch der Friedhöfe, auf deren Grabsteinen mehr polnische als deutsche Namen zu lesen sind, eine Ahnung davon geben könnte, wer das neue, industrialisierte Deutschland eigentlich mit aufgebaut hat. Man könnte entgegengesetzt von Meckpom mal eine Bahnfahrt in die Kurpfalz veranstalten, wo sehr schnell deutlich würde, wie groß der Einfluss der französischen, italienischen und flämischen Immigranten auf die frühe Aufklärung war. Oder man betriebe mit den vielen Radikalskeptikern aus dem Brandenburgischen einen kleinen Kurs zum Thema Quellenkunde, in dem man als einziges Studienobjekt das Telefonbuch von Berlin nähme, um darauf hinzuweisen, wie groß der hugenottische Einfluss auf das Fundament der heutigen Hauptstadt war. Oder man brächte eine Delegation von oberfränkischen Landbewohnern in den Großraum Stuttgart, um zu verdeutlichen, in welchem Konnex der Elan dieser Region mit den Menschen aus dem Balkan steht.

Derartige Aktionen initiierten zwar einen Lernprozess, der allerdings angesichts der Dringlichkeit der erforderlichen Immigration nicht gerecht würde, weil Lernen Zeit in Anspruch nimmt, die wir nicht mehr haben. Die Diskussionen um die Immigration in Deutschland ist ein Gradmesser für die Fähigkeit des hiesigen Gemeinwesens, Zukunft gestalten zu können. Die xenophobischen Aspekte der immer wiederkehrenden, immer rückwärtsgewandten und nie nach Möglichkeiten, sondern immer nach den Gefahren suchenden Auseinandersetzungen um die Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind oder nicht, attestieren gleichzeitig das Verfallsdatum.

Wären da nicht diejenigen, die irgendwann aus Polen, Russland, Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien, Serbien, Kroatien, Griechenland, der Türkei, Tunesien, Marokko, Chile oder Vietnam kamen, die lange genug da sind, als dass irgendwer noch auf die Idee käme, bei ihnen von Migranten zu reden. Sie alle beweisen das Gegenteil dessen, was die volksverhetzende Propaganda suggeriert. Weil keinem mehr auffällt, dass sie es sind, über die wir reden.