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Pandemien und Kriege

Es ist müßig denjenigen, die nicht mehr lesen, sondern scrollen, den Rat zu geben, sich in der Geschichte kundig zu machen. Es existieren genügend Werke von Historiographen, die nicht nur die erwähnenswerten Geschehnisse dokumentieren, sondern ihnen in der einen oder anderen Weise einen Sinn zu geben. Letzterer resultiert in der Regel aus der Sichtweise des Heute, was nicht vor Irrtümern bewahrt. Denn auch die Sicht unserer Tage ist nicht frei von Interessen und Macht, was dazu führt, dass diejenigen, die irgendwann auch zu den Annalen derer gehören, die untergegangen sind, zuweilen ziemlichen Unsinn verzapfen.

Dennoch ist es ratsam, den Blick in die Vergangenheit zu werfen. Denn eines liefert sie, unabhängig von der aktuellen Sichtweise oder den historischen Interessen: die Erkenntnis, dass nichts so bleibt, wie es war, dass alles, was entsteht, auch irgendwann untergeht und dass es eine wie auch immer geartete Ratio des humanen Weltgeschehens nicht gibt. Vieles, was geschieht, entzieht sich der rationalen Vorhersehbarkeit. Soziale Systeme sind komplex, und Komplexität glänzt durch unzählige Aspekte, Verknüpfungen und Wirkungsweisen. 

Die großen Figuren, von denen in unserer Einfalt immer wieder die Rede ist, sind das Produkt aller gesellschaftlichen Prozesse und sie können nur das betreiben, was die vielen kleinen Partikel dulden und mitmachen. Wenn man schon so eine unsinnige Kategorie wie Schuld in die Geschichte einführen will, so bedeutet es, dass niemand frei von Schuld ist. Und wenn alle mitschuldig sind, dann macht die Kategorie keinen Sinn.

Was die Geschichte zeigt, ist, dass der bis heutige Fortbestand der Spezies Mensch eher dem Zufall überlassen ist. Und sie teilt uns auch noch so interessante Details mit, dass Pandemien jeweils immer mehr Menschen dahingerafft haben als Kriege. Und dass Kriege oft Pandemien hervorriefen oder nach sich zogen. Und dass sie nicht selten dazu beitrugen, die jeweils vorherrschenden sozialen und politischen Ordnungen im Chaos versinken zu lassen. Der Zusammenhalt von Gesellschaften, so die sicherlich nicht von der Hand zu weisende Schlussfolgerung, wurde in Pandemien immer wieder auf eine harte Probe gestellt.

Bei den eher theoretischen Überlegungen sei der Hinweis auf die aktuellen Geschehnisse erlaubt: Wer die soziale Ordnung aufrecht erhalten will, sollte alles dafür tun, den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit allen verfügbaren Maßnahmen zu unterstützen. Wer nun auf das Mittel Spaltung setzt, um die eine oder andere Maßnahme, die seiner Überzeugung entspricht, durchzusetzen, kann nicht bis zum nächsten Morgen denken oder es handelt sich um einen Scharlatan. Bei Betrachtung der gegenwärtigen Rhetorik im politischen Diskurs drängt sich der Eindruck auf, dass nahezu flächendeckend die Dekonstrukteure des Gemeinwesens in der Verantwortung zu sein scheinen.

Die Interdependenz von Kriegen und Pandemien ist auch in diesen Tagen wieder zu beobachten. Viele Verantwortliche versuchen, die durch die Pandemie entstandenen Verwerfungen äußeren Feinden zuzuschreiben.  Das soll von eigenen Versäumnissen und Fehlentscheidungen ablenken und die daraus entstandene Frustration auf andere lenken. Es ist ein Teufelskreis, aus dem, und das ist die Quintessenz, nur die Mutigen bereit sind, auszubrechen.

Das Hangeln von einem Heilsversprechen zum anderen ist keine Grundlage für eine von der Allgemeinheit akzeptierte Politik in der Krise. Selbstkritik und das Zugeständnis der eigenen Fehlbarkeit bilden die Grundlage für eine Politik, die geeignet ist, den schlimmsten Schaden abzuwenden. Das klingt einfach, ist jedoch eine sehr hohe Messlatte.

Die Perfidie des Selbstbetrugs

Es ist zu vermuten, dass das Phänomen allgemein bekannt ist. Man führt sein Leben, geht seiner Wege und denkt, so sei das im Allgemeinen. Der Schluss, dass die eigene Weise das sei, was als normal zu gelten habe, ist relativ logisch und nachvollziehbar. Nur trifft er, dass wissen wir auch alle, nur sehr selten zu. Zu spezifisch sind die jeweils eigenen Lebensumstände und zu divers sind die Individuen, die auf sie treffen. Es deutet sich bereits an, dass die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft nicht unbedingt als unkompliziert zu bezeichnen sind. Hätten wir alle diese Erkenntnis vor Augen, wenn wir miteinander verkehrten, dann wäre vieles leichter. Aber dem ist nicht so.

Ganz im Gegenteil. Denn wie oft widerfährt es uns, dass wir den eigenen Weg, der uns zum Ziel geführt hat, anderen nicht nur empfehlen, sondern ihnen regelrecht aufzwingen wollen. Das ist oft gut gemeint, aber verheerend. Denn denjenigen, denen man die eigene Erfahrung nimmt und in eine Lösung zwingt, verlieren ihre Autonomie. Was, so wird man sich fragen, resultiert denn daraus? Sollten alle immer wieder den sich wiederholenden Irrungen unterliegen und die gleichen Fehler machen? Das wäre doch fatal! 

Und es kommt oft noch schlimmer! Diejenigen, die es wagen, nicht auf unseren Rat zu hören, stehen nicht nur unter strenger Observanz. Nein, sie werden in der Regel für alles gerügt, was sie tun und ihnen unterläuft. Den Chor der Beleidigten Ratgeber kennen wir. „Hättet Ihr, wäret Ihr, müsstet Ihr nicht?!…“ Wir meinen, es besser zu wissen und mobilisieren unsere Gefühle gegen diejenigen, die das nicht einmal offen anzweifeln, aber es doch vorziehen, ihre eigenen Erfahrungen zu machen. Was wir da an den Tag legen, wenn wir so handeln, ist so etwas wie der große Egoismus der eigenen Eitelkeit. Denn eigentlich ist es eine Bereicherung, wenn die Einsicht winkt, dass es außer meiner noch eine weitere Lösung gibt. Oder? 

Aber wir sind derweilen unbelehrbar und auf eine nahezu satanische Weise fehlgeleitet. wir mutieren nämlich zu regelrechten Inquisitoren, wenn sich jemand, der oder die angeht, Erfolg zu haben, aus eigenen Stücken das Husarenstück fertig bringt, genauso wie wir, mit den gleichen Mitteln, vorzugehen. Dann sind wir nicht nur gekränkt, sondern wir avancieren zu Bestien, die das nicht verzeihen. Und sollten dann noch Fehler auftauchen, die den unseren entsprechen, dann werden die Ungelehrigen zur Enthauptung freigegeben. Gnade ausgeschlossen.

Ja, manchmal treffen alte Weisen den Kern der Sache am besten. Wir sind alle keine Engel, heißt es in einer solchen. Für sich betrachtet eine mehr als triviale Aussage. Im Kontext der Beziehung von Individuum und Gemeinwesen jedoch eine fundamentale Erkenntnis, die allen Agierenden ständig bewusst sein sollte. Damit Kommunikation gelingt, bedarf es nicht nur einer gemeinsamen Intentionalität, einem gemeinsamen Willen, dass diese gelingt. Es bedarf auch der Einsicht in die Möglichkeit der Fehlbarkeit des eigenen Handelns. Sind diese beiden Voraussetzungen nicht erfüllt, dann wird es schwierig. Und manchmal sogar desaströs.

Anscheinend bewegen wir uns derzeit in Gefilden, in denen diese beiden Erkenntnisse keine Rolle spielen. Andere Kräfte als die menschliche Einsicht sind an der Macht. Es herrscht die Perfidie des Selbstbetrugs. In dieser Hinsicht ist es tiefe Nacht. Hoffen wir auf das Morgengrauen.