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Eine Bürokratie von Einpunktstrahlern

Mangels genügender Beachtung greift die Gesellschaft oder die spezielle Organisation zu einer Hilfskonstruktion. Sie schafft eine eigene Funktion für ein Thema, das wichtig ist, aber nicht gut genug beachtet wird. Zumeist sind es Themen, die noch nicht lange im Fokus stehen und deshalb in Form dieser Funktion so etwas wie Geburtshilfe bekommen. Man nennt sie dann Beauftragte, Anlauf- oder Stabsstellen. Ziel ist es, dass sie helfen, das Thema zu sozialisieren, sodass es in den Handlungsmustern aller irgendwann erkennbar wird und sie sich damit dann selbst überflüssig machen. Die Funktionsweise von Systemen verhilft jedoch zumeist zu einer längeren Existenz.

Soziale Systeme unterliegen einem Dilemma. Einerseits sind sie konstituiert und definiert, um einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Um das Ziel erreichen zu können, beginnen die Mitglieder des Systems, es zu strukturieren und zu organisieren und schaffen damit einen sozialen Organismus, der eigene Gesetze und eine Eigendynamik entwickelt, die oft stärker wirkt als die ursprüngliche Zweckbestimmung. Dann dominiert das System und viele Außenstehende reiben sich die Augen, wenn sie das Ganze mit der ursprünglichen Zweckbestimmung im Kopf betrachten. Plötzlich geht es gar nicht mehr darum, das Ziel zu erreichen, sondern die eigenen Einflussmöglichkeiten und Machtanteile zu vergrößern. Diese funktionellen thematischen Hilfskonstruktionen dann zu befragen, wann sie eigentlich glaubten, dass das Thema so sozialisiert sei, dass man ihrer nicht mehr bedürfte, löst in der Regel blankes Entsetzen aus. 

Das Temporäre der eigenen Existenz, letztendlich der eigentliche Sinn und gleichzeitig der Maßstab für den Erfolg der Konstruktion, wird irgendwann nicht mehr als vernünftige Betrachtung bewertet, sondern als Affront gegen das Thema deklariert. Ist es aber nicht. Was es gefährdet, ist die konkrete Existenz der Personen, die sich einen Apparat geschaffen haben, der ein hehres Ziel verfolgen sollte, der sich aber der generellen Systemlogik gebeugt hat und mehr Energie auf den Ausbau der eigenen Strukturen verwendet als auf die Sozialisierung des Themas in den Köpfen aller.

Einmal in dieser Phase angelangt, verkommen die Argumente, die das Thema zur Beachtung bringen sollen, zu bloßen Phrasen, die auch von Automaten vorgebracht werden könnten, ohne an Überzeugungskraft zu verlieren. Die Runden, in denen Beauftragte nach ihrem Statement gefragt werden, deren Einlassungen jedoch kaum einen Einfluss auf die zu treffenden Entscheidungen haben, sind Legion. Zumeist sind es dann auch Chiffren, die aus dem programmatischen Arsenal des Themas aufgezählt werden. Sie haben keinen Überzeugungscharakter mehr, aber sie stehen im Protokoll und dienen der Legitimation. Sie sind nachlesbar und belegen, dass die Funktion wahrgenommen wird, zumindest formal.

Die Erfahrung mit dem Beauftragten- und Stabsstellenwesen legt es nahe, ihnen bei Einrichtung sogleich das Ablaufdatum auf das Label zu schreiben und sich dann daran zu halten oder die thematischen Ziele sogleich mit denen zu vereinbaren, die sowieso die Verantwortung tragen. Beides ist möglich. Das Erreichen von definierten Zielen zu überprüfen ist essenziell. Geschieht das nicht, d.h. werden weder Ziele formuliert noch ihr Erreichen überprüft, entsteht angesichts der wachsende Komplexität sozialer Systeme eine rasant wachsende Bürokratie der Einpunktstrahler, für die exklusiv das eigene Thema und die eigene Existenz relevant ist. Unter dem Strich nehmen sie dem Gesamtsystem die Durchschlagskraft und bewirken dennoch nichts.

Gelingt es der inhaltsleer gewordenen Bürokratie, Fragen nach Wirkung und Existenz zu tabuisieren und zu unterbinden, dann hat der Selbstzweck des Systems gedient. 

Opfer der Halbwertzeit

Fortschritt ist eine heikle Sache. Nicht nur, dass ihm Vieles, was bewährt erscheint, zum Opfer wird. Nein, auch die Menschen, die mit ihm konfrontiert sind, zerfallen in verschiedene Lager. Zum einen in diejenigen, die ihn aufhalten wollen und zum anderen in jene, die ihm zum Erfolg verhelfen wollen. Das Absurde dabei ist, dass weder das Eine noch das Andere eintritt. Wenn sich etwas ankündigt, ist es da, aber nie in der Reinkultur, in der sich die Idee präsentiert. Je weiter man in der kurzen Geschichte der Menschheit zurückgeht, desto gelassener scheinen die jeweiligen Generationen mit der Frage des Fortschritts umgegangen zu sein. Nicht, dass nicht auch schon in der Antike die Köpfe rollten. Wo neue Ideen aufkommen, da brennt es oft lichterloh und manches Gefühl dominiert dann doch das kalte Räsonnement. Aber, trotz der Tageshitze, irgendwie reflektierten diejenigen, die von uns aus gesehen in weiter Vorzeit lebten, einen immer wiederkehrenden Zyklus an Bestand und Ruin, der sie davon abhielt, hektisch zu werden. Auch nicht, wenn der Fortschritt direkt an die Tür klopfte.

Verglichen mit heute sieht das alles sehr verlangsamt aus, was aber Vorteile hat, was wir alle wissen, seitdem wir uns mit den Vorzügen der Langsamkeit und den Nachteilen des Tempos beschäftigen. Nicht nur gefühlt, sondern auch messbar werden unser Leben und die in unserem Leben stattfindenden Entscheidungen immer hektischer. Es hat nichts mit einer genetischen Entwicklung des Menschen zu tun, sondern mit den Lebensumständen, die er selbst schuf und die ihn nun zu tyrannisieren suchen. Die Dominanz der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass die humane Reflexion an den Rand gedrängt wurde.

 Der Terminus überhaupt, der verantwortlich zeichnet für die Beschleunigung der Lebenswelten ist der der Halbwertzeit. Alles, womit wir mittlerweile in unserem Routinealltag operieren, unterliegt dem Trend der Verkürzung der Halbwertzeit. Jede Erfindung, jede Neuerung und somit jeder Fortschritt basiert auf einer Innovation, deren Wertbestand immer kürzer wird. So ist es keine Seltenheit, wenn eine neue Maschine, ein neues Verfahren oder eine neue Methode schon den Death Letter bekommt, bevor es überhaupt zu Ende gedacht, eingeführt und etabliert wurde. Die betroffenen Menschen macht das nicht nur zunehmend verrückt, sondern es führt sie immer wieder zu der nicht unberechtigten Frage, ob diejenigen, die darüber entscheiden, ob es Fortschritt gibt oder nicht, überhaupt wissen, was sie wollen. Die Antwort kann nur lauten: Meistens Ja und meistens Nein!

Das logische Dilemma, in dem sich eine Zivilisation befindet, die auf den Fortschritt setzt, resultiert aus der Aufgabe der absoluten Dominanz menschlicher und institutioneller Entscheidungen. Nur wenn es Menschen sind, die erstens legitimiert sind und zweitens von dem Zweck getragen werden, ob es nützlich ist und die Gesellschaft weiterbringt, was da eingeführt wird, wird die Eigendynamik der rein technischen Revolution eingedämmt. Die Verselbständigung der technischen Prozesse macht aus den menschlichen Subjekten Gejagte, die mit der Beschleunigung von Wissenschaft und Technik immer fremdbestimmter werden, ohne auch noch die Zeit und Muße dafür zu haben, zu überdenken, ob dieser Trend überhaupt das ist, was sie wollen. Es genügt das Signum des Fortschritts, um sich eine scheinbare Legitimation für das Zeitgemäße zu holen. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wer keine Zeit mehr hat zu reflektieren, was er will und was er nicht will, der lebt in grauer Vorzeit.