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Munchs Schrei und das cultural gap

Das Naturell des menschlichen Wesens hat keine Zeit, entsprechend der es umgebenden Veränderungen zu reifen. Vom Dreißigjährigen Krieg, in dem die Hellebarde, die Machete und der Morgenstern das Dasein auslöschten bis hin zu den täglichen Veränderungen in Überbitgeschwindigkeit und der Fähigkeit, aus dem All ein Autokennzeichen vor Abschuss zu lesen, liegen ganze 270 Jahre. Das, was sich in dieser Zeitspanne an wissenschaftlich-technischen Veränderungen, Revolutionen und der Erschließung von Destruktionspotenzialen ergeben hat, sprengt alleine schon die Vorstellungskraft des durchschnittlichen Zeitgenossen. Seine Fähigkeit, Verhalten und Handlungsweisen den veränderten Verhältnissen anzupassen, ist vorhanden, jedoch nicht in dem Maße, wie die Industrialisierung der Erkenntnis fortschreitet.

Das, was in der Soziologie als cultural gap bezeichnet wird, definiert die beschriebene Situation. Zwischen der Alltagskultur der Gesellschaft, also den Handlungsweisen und Verkehrs- und Kommunikationsformen derselben und der real existierenden technischen Welt existiert eine Kluft. Der Mensch, obwohl Impulsgeber und Schöpfer einer jeglichen Innovation, steht mit seinem eigenen Dasein immer in der Vergangenheit und schaut staunend auf das Neue, dem er nicht entrinnen kann.

Es ist klug und gekonnt, sich ab und zu zurückzulehnen und den Sachverhalt zu betrachten und zu beschreiben. Nur wenn das gelingt, kann etwas sehr Zerstörerisches verhindert werden: Die Dissonanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Irgendwann wird jeder Generation deutlich, dass eine neue Entwicklungsschwelle erreicht ist, an der sie scheitern wird. Es bedeutet, sein eigenes Leben so weiter zu leben wie bisher, aber dadurch daran gehindert zu sein, am neuen Leben teilzuhaben. Damit kann man leben, wenn keine Notwendigkeit des Broterwerbs damit verbunden ist. Im Arbeitsleben ist es Mord.

Das cultural gap kann sich in der Produktion wie im Wirtschaftsleben allgemein niemand leisten. Wer sich neuen Entwicklungen entgegenstellt, den stellt der Wettbewerb ins Abseits. Wer mitmacht, zahlt jedoch einen hohen Preis. Er folgt der Logik des Neuen, ohne jedoch noch in einer Beziehung von Subjekt und Objekt, vom handelnden Menschen zum Werkzeug zu sein. Vielmehr verkehrt sich das Verhältnis und die Funktionslogik der neuen Technologie dominiert das menschliche Wesen. Ein brutaler Prozess der Entfremdung ist die Folge.

Je kürzer die Halbwertzeiten des technischen Fortschritts und je radikaler das Neue, desto schlimmer wird der Druck, dem die Menschen in diesem Prozess ausgesetzt sind. Das Schlimme an der Situation im Allgemeinen liegt darin begründet, dass über diese Herausforderung nicht gesprochen wird. Zumindest nicht dort, wo der Druck am größten ist. Deshalb ist es kein Wunder, dass die Botschaften, wie denn tatsächlich das cultural gap auf die menschlichen Individuen wirken, aus dem Feld der Diagnostik stammen.

Stressfaktoren und Symptome sind Fehler, Krankheit, Misserfolg, Überforderung, Termindruck, Lärm, Informationsflut, Multitasking, ständige Erreichbarkeit und Angst. In den wenigsten Leistungsorganisationen wird dieses thematisiert und führt zu einem vernünftigen Umgang miteinander und mit der Situation. Und, so makaber es auch scheint, selbst dieses ist ein Indiz für das cultural gap. Dennoch und deshalb gebührt all denen, die sich dem Thema ernsthaft widmen, großer Respekt.

Vielleicht hilft es auch, sich den Schrei von Edvard Munch unter diesem Aspekt noch einmal auf sich wirken zu lassen. Ist es nicht auf die Verzweiflung des menschlichen Wesens über die Raserei, die es selbst erzeugt?