Die These ist steil. Dennoch spricht vieles dafür. Es geht um eine Konsequenz im Zeitalter der Digitalisierung. In einer kulturkritischen Abhandlung stellte sie einer auf, der selbst noch analog sozialisiert wurde. Die Digitalisierung, so seine These, geht immer den direkten Weg. Sie räumt nicht nur alles aus dem Weg, was zwischen dem Wunsch des Individuums und seiner professionellen Erfüllung steht, sondern sie geht ihn erst gar nicht. Das Individuum kommuniziert direkt mit der Agentur des Komplexen, die ihm alles sehr einfach macht. Alles, was dazwischen steht, ist obsolet geworden. Keine antiken Büros und Agenturen mehr, keine Vermittler, keine Erklärer, keine Lehrer, keine Politiker, sprich keine Priester. Die Zeit der Priester, im direkten wie übertragenen Sinne, ist vorbei.
Beispiele dafür lassen sich leicht finden. Und sie werden stets beklagt. Der Buchhandel ist ein gerne genommenes. Er keucht seit einiger Zeit, wären da nicht die antiken Junkies, die immer noch am Haptischen hängen, einen psychosozialen Plausch im Lädchen an der Ecke brauchen und manchmal sogar, so wie man hört, mit dem dort erstandenen Produkt ohne Hemmungen ins Bett gehen. Wären nicht diese Perversen, dann wäre der Buchhandel bereits in Gänze Geschichte, so wie, sagen wir einmal, Reisebüros.
Richtig spannend wird die These, wenn man sich den Lehrern und Politikern – selbstverständlich gesternt und gegendert – nähert. Der mit der Corona-Ausnahmesituation so viel beschworene Digitalisierungsschub im eher kommunkationstechnologisch resistenten Germanistan wird, so lässt sich bereits bei der Fraktion der Befürworter leicht ausmachen, zu einer Massenliquidation des antiken Lehrerberufs führen. Der humane Zug von Bildung und Erziehung wird der interaktiven Wissensvermittlung weichen und den dogmatischen, technikaversiven Nostalgikern am Klassenpult die Lampe ausblasen. Inwieweit das zu besseren Menschen führen wird, steht bei der Bewertung der These nicht zur Debatte. Lehrer passé.
Und wie sieht es bei den Vermittlern der Politik aus? Ehrlich gesagt, die These gewinnt erst in diesem Zusammenhang so richtig Charme. Denn dass die klassischen Vermittler von Politik sich in einer existenziellen Krise befinden, ist überall zu beobachten. In richtig großem Maßstab haben das bereits die USA und Frankreich mit ihren jetzigen Präsidenten gezeigt. Sie sind beide ein Schlag in das Gesicht der alten, gesetzten, bürgerlichen Demokratie mit ihren Institutionen. Dass mit den beiden Figuren, die eine derb, brachial und banausenhaft, die andere smart, eloquent und gerissen, dennoch eine Illusion ins Amt kam, hat sich bereits herausgestellt. Sie sind der Ausdruck des Versagens, Politik in ihrer Komplexität noch vermitteln zu können. Beide haben bis jetzt erfolgreich diese Komplexität reduziert und ein Desaster verursacht. Das Verheerende dabei ist der Versuch vieler aus dem bedrohten Gewerbe, diesem Muster zu folgen. Es wird in Chaos und Verwerfung enden.
Aber wenn die Zeit der Priester, und damit sind alle Vermittler gemeint, die des Materiellen wie die der Seele, wenn sie vorbei ist, wie wird der Prozess, der zwischen dem Willen des Individuums und der Gesellschaft verläuft, gestaltet sein? Durch Algorithmen? Mathematisch-informatische Codes, die die Summe der Informationen, die vorliegen, zu Befehlen dechiffrieren, die dem Wunsch der Summe der Individuen, sprich das ehemalige Volk, für das noch kein passender Begriff gefunden wurde, entsprechen? Das nur noch seine Zufriedenheit oder den Unwillen per Button artikulieren muss, um das dienende Regime zu bestätigen oder abzuwählen?
Die Tendenz, die die These hervorruft, dass die Zeit der Priester vorbei ist, lässt sich nicht von der Hand weisen. Die Vorstellung darüber, wohin die Reise gehen wird, trägt in vielen Fällen dystopische Züge. In Zeiten, in denen Systeme ins Wanken geraten, ist die dunkle Sicht nachzuvollziehen. Ein guter Rat ist immer, und dabei bleibe ich, Digitalisierung hin oder her, auf den eigenen Bauch zu hören. Meistens bestätigt sich, dass er richtig lag, auch nach einer rationalen Analyse. Der Bauch sagt, auf keinen Fall den taumelnden Priestern zu folgen, die mit bereits brennender Kutte das Himmelreich verkünden. Und er sagt auch, nimm deine Sache in die eigene Hand. Zusammen mit denen, denen du vertraust. Man möge die Schlichtheit dieses Rates verzeihen.
