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Intrige: Polanski legt den Finger in die Wunde

Roman Polanski, Intrige

Ein bis heute unglaublicher Skandal, der sich in den Jahren 1895 fort folgende ereignete und ein böses Licht auf den damals verbreitenden Antisemitismus in Frankreich wirft, ist durch den selbst immer wieder mit Anschuldigungen konfrontierte und in Skandale verwickelten Filmregisseur Roman Polanski aufgegriffen worden und nun auch in Deutschland unter dem Titel „Intrige“ in die Kinos gekommen. Und prompt sprießen die Spekulationen um die Vieldeutigkeit des Themas auch in Bezug auf den Regisseur selbst ins Abenteuerliche. Alles, was es dazu bis dato zu lesen gibt, ist vage, der Film hingegen nicht.

Es empfiehlt sich daher, das Augenmerk auf den Film selbst zu richten. Eine gute, ja, eine sehr gute Referenz ist erst im Abspann zu lesen. Polanski stützt sein Werk auf den Roman des britischen Autors Robert Harris (Enigma, Fatherland), der 2013 unter dem Titel „An Officer And A Spy“ veröffentlicht wurde. Diesem Roman wiederum wurde bescheinigt, dass er neben der darstellerischen Stärke auf einer historisch-faktischen Materiallage beruhte, an der nichts zu kritisieren ist. Da Polanski sich sehr präzise an die literarische Vorlage hält, muss davon ausgegangen werden, dass da nichts gebeugt wurde, was für dokumentarische Stärke spricht.

Die in die Geschichte eingegangene Dreyfus-Affäre war ein Komplott in der französischen Armee gegen den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus, dem Spionage gegen das Vaterland vorgeworfen wurde und der aufgrund teils fingierter Beweisstücke und einer äußerst dürftigen Konstruktion seiner militärischen Ränge entledigt, aus der Armee entlassen und auf eine Gefangeneninsel in französisch Guayana verbannt wurde. 

Erst als der Colonel Georges Picquart, selbst Beobachter des Prozesses, zum Chef der statistischen Abteilung des Geheimdienstes berufen wird und dieser die desolate Beweislage und die damit verbundenen Machenschaften entdeckt, beginnt dieser damit, Licht in die Sache zu bringen. Was folgt, ist ein Lehrstück über staatliche Verschleierung, verbreiteten Antisemitismus und eine sich langsam ergebende demokratische Öffentlichkeit. Deren historisch markanteste Form war der Artikel Emile Zolas, der unter dem Titel „J´accuse!“, Ich klage an, großes Aufsehen erregte und für den der Autor selbst zu einem Jahr Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Wie der Dreyfus-Skandal endete, welche Verwerfungen und Wunden er hinterließ, ist in dem Film zu sehen.

Polanskis Film ist nichts anderes, als eine solide Verfilmung einer historischen Verfehlung, die mit großer Systematik betrieben wurde. Und sie ist aktuell insofern sehr angebracht, da in der französischen Gesellschaft sich wieder Antisemitismus breit gemacht hat, der dazu führt, dass bereits Hunderttausende von Juden in den letzten Jahren das Land verlassen haben. In der internationalen Wahrnehmung ist das noch nicht sonderlich wahrgenommen worden. Auch die deutschen Medien schweigen sich dazu aus. Insofern handelt es sich bei Polanskis Film nicht nur um eine historische Aufarbeitung, sondern auch um eine hoch aktuelle Anregung, politische Geschehnisse der Gegenwart zu reflektieren. Das ist ein großes Verdienst. „Intrige“ ist ein großes Publikum zu wünschen. Vor allem mit dem Hinweis, dass die Geschichte – leider – noch nicht zu Ende ist.  

Plot und Massenpsychose der Dreyfus-Affäre

Robert Harris. An Officer And A Spy

Der Brite Robert Harris spielt auf vielen Wiesen. Studiert hatte er Geschichte in Cambridge, bevor er als Journalist bei verschiedenen renommierten Zeitungen seines Landes arbeitete. Als Romancier hatte er seinen Einstand mit dem Weltbestseller Fatherland, einer Fiktion über ein Deutschland, das den Zweiten Weltkrieg nicht verloren hatte und vor einer architektonischen Speer-Kulisse im Berlin der sechziger Jahre spielte. Enigma widmete sich der Dechiffrierung deutscher U-Boot-Codes im Zweiten Weltkrieg. Mit Lustrum und Imperium schrieb er zwei sehr an den historischen Fakten angelegte Romane über die Vita Ciceros. Ghost wiederum war eine Abrechnung mit seinem früheren Freund und Politiker Tony Blair. Vor zwei Jahren überraschte er mit Fear Index, einer spannenden Story über die Eigendynamik der durch Algorithmen getriebenen Börsenwelt. Sein jüngstes Buch, An Officer And A Spy ist die Geschichte der französischen Dreyfus-Affäre.

Den Handlungsrahmen bildet die öffentliche Verurteilung des Majors Alfred Dreyfus, eines Juden aus Mulhouse, der der Spionage für die verfeindeten Deutschen bezichtigt wird. Dreyfus wird im Januar 1895 als schuldig befunden, als unehrenhaft aus der französischen Armee entlassen und auf die Gefangeneninsel Devils Island im Südatlantik transportiert, wo er unter unmenschlichen Bedingungen als einziger Häftling weggesperrt wird. Erzählt wird die Geschichte aus dem Blickwinkel des Majors Georges Picquart, seinerseits Major und an der Überführung Dreyfus´ beteiligt. Picquart steigt zum Chef der Geheimen Dienste auf und erhält Einblick in das bisherige Verfahren. Dabei wird ihm bewusst, dass es sich beim Fall Dreyfus um eine Verkettung von Fälschungen und Verschwörungen handelt und die Anschuldigungen letztendlich nicht haltbar sind.

Trotz einer erstaunlich akribischen Rekonstruktion des gesamten Falles und trotz der historisch bekannten Umstände um seine Auflösung gelingt es Harris, einen Spannungsbogen aufzubauen und bis zum Schluss zu halten. Neben der bekannten Geschichte entwirft Harris das gesamte Szenario eines auf Antisemitismus basierenden Komplotts einer in starkem Maße degenerierten Organisation. Vom Militär bis in die Ministerien wird eine Blaupause entworfen, wie von den Defiziten der eigenen Identitätsfindung hin an einem Paradigma des Sündenbocks gearbeitet wird. Von eigenen Karriereabsichten bis hin zu bewusstem politischen Kalkül werden alle Operationen synergetisch dem Ziel untergeordnet, einen Rahmen der öffentlichen Meinung zu schaffen, der die kognitive Wahrnehmung trübt, um die antisemitischen Tiraden hinnehmen und die tatsächlichen Pläne der Akteure nicht mehr identifizieren zu können. Alle auftretenden historischen Figuren sind in ihren Handlungen und Aussagen valide, von den verschiedenen Kriegsministern, die bis zur endgültigen Rehabilitierung Dreyfus´ eine Rolle spielten, über die wechselnden Chefs der Geheimdienste bis zu den Meinungsmachern, von couragierten demokratischen Abgeordneten bis hin zu zu der Ikone Emile Zola, der mit seinem öffentlichen Aufruf J´accuse! eine Verurteilung und das Londoner Exil in Kauf nahm.

An Officer And A Spy liest sich wie das Modell dessen, was die die Amerikaner später ein Frame-up-Verfahren nennen sollten: Die Inszenierung eines Skandals, der an Instinkte der Angst appelliert, um eine Massenpsychose zu initiieren, die ablenkt vom systematischen Ausbau des Machtmissbrauchs. Dass die französische Gesellschaft zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in starkem Maße von den Irrationalismen des Antisemitismus geprägt war, hatte mit dem Trauma der militärischen Niederlage von 1870/71 im Krieg gegen Deutschland zu tun und der wahnwitzigen Annahme, dass gerade die deutschstämmigen Juden aus den verlorenen Gebieten Elsass und Lothringen als Agenten des Feindes aktiv gewesen seien. In dem ganzen Irrsinn liegt eine Antizipation dessen, was drei Jahrzehnte später in Deutschland unter anderen Vorzeichen den Antisemitismus in Deutschland befeuerte. Ein nicht nur lesenswertes Buch, sondern ein Muss für historisch Interessierte.