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Literatur und Welterklärung

An der jährlichen Diskussion um den Literatur Nobelpreis wird deutlich, wie es um die Literatur generell bestellt ist. Ein Preis, um das vorweg zu nehmen, ist generell kein Gradmesser für Qualität. Das war nie so, auch nicht beim Nobelpreis. Das sollten diejenigen, die den alten Zeiten der vermeintlichen Prämierung nur der ganz Großen nachtrauern, im Kopf haben. Mehr noch, dem Nobelkomitee muss sogar bescheinigt werden, dass es mit der Zeit gegangen ist. Es bedient mittlerweile Fokusgruppen, die auf dem Weltmarkt der Literatur eine Rolle spielen und orientiert sich nicht an den genialen Köpfen, die Werkstücke von Literatur entwickeln, die durch ihre verbale Potenz faszinieren oder in die Zukunft weisen. Das spielt anscheinend keine Rolle mehr. Aber es ist nicht die Schuld des Komitees.

Spätestens seit der Digitalisierung unserer Lebenswelt muss die Frage erlaubt sein, ob Literatur, so wie sie im 19. und 20. Jahrhundert definiert wurde, überhaupt noch eine Chance haben kann? Eine Literatur, die das Dasein reflektiert, die in die Tiefen der Motive und der Deutung geht, die den Zweifel im Raum stehen lässt, diese Art von Literatur, die mit der Fokussierung auf das Individuum in den bürgerlichen Gesellschaften entstand, diese Art von Literatur arbeitet mit der Zeit. Ohne großes Kontingent an Zeit ist sie weder herstellbar noch konsumierbar. Das ist eine Hypothek, unter der dieser Zweig in hohem Maße leidet. Und die Literatur, die die sprachliche Gestaltung in den Fokus stellt, ist, bei deiner allgemeinen Reduktion der Botschaften auf des Wesentliche, kaum noch in dem Gefilde, in dem sich eine experimentelle Reihe halten könnte. Um es kurz zu sagen, vom bürgerlichen Entwicklungsroman bis zum Underground stehen die Zeichen nicht unbedingt auf Ermutigung. Das heißt nicht, dass nicht neue Formen der Literatur entstünden oder bereits existierten, die auch in der digitalen Epoche, wie z.B. das Haiku, Zukunftspotenziale hätten.

Interessant ist die Schockstarre, in die nahezu die gesamte literarische Zunft gefallen ist, zumindest fühlt es sich so an. Oder anders formuliert, was haben die Agentinnen und Agenten des Genres heute noch zur Gegenwart zu sagen? Wo ist der Roman, der eine ganze Gesellschaft aus der Fassung bringt, der sie in Alarmzustand versetzt oder der sie kollektiv betroffen macht. Was schafften europäische und amerikanische Autoren, um in unserem Kulturkreis zu bleiben, in der Vergangenheit, wenn sie ihre bis heute immer wieder die Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen elektrisierenden Werke schufen? Eines scheinen sie gemein gehabt zu haben, diese Werke, nämlich die Thematisierung dessen, was die Menschen ihrer Zeit bis in die Poren bewegte. Ob Tolstoi oder Dostojevski, ob Goethe, Heine, Brecht, Graf oder Döblin, ob Balzac oder Zola, ob Dickens oder Joyce, ob Dos Passos oder Steinbeck, sie alle thematisierten Massenschicksale oder Faktoren, die das Massenschicksal bestimmten oder sie drangen ein in die Vorstellungs- und Gefühlswelt der Individuen, die als Atome der jeweiligen Gesellschaft fungierten. Das ist keine Referenz an gute alte Zeiten, sondern der Versuch, erfolgreiches Vorgehen zu analysieren.

Die Fragen, was auf die Menschen wirkt, was sie bewegt und wie diese Motive die Gesellschaften, in denen sie wirken, wiederum bewegen, sie sind das Niemandsland, in dem sich Literatur momentan befindet. Es scheint eine Sprachlosigkeit zu herrschen, die aus dem Unvermögen resultiert, die Welt über das Klischee hinaus noch deuten zu können. Versuche, diesen Weg zu beschreiten, werden in der Regel nicht honoriert. Da sind wir wieder bei dem Nobelpreis. Er ignoriert den Versuch der Welterklärung, das passt nicht ins Marketing.

Das schrille Getöse der Welt

John Dos Passos. Orient-Express

Mit frühen Schriften späterer Literaturgrößen kann es so eine Sache sein. Wenn man nicht aufpasst, interpretiert das Feuilleton sehr schnell unbeholfene Schreibversuche bereits als das Gen für spätere Größe. Dass es nicht immer so ist, wissen wir allerdings auch. Die nun zum ersten Mal in deutscher Sprache vorliegenden und unter dem Titel Orient-Express veröffentlichten Texte von John Dos Passos jedoch sind ein wichtiges historisches Dokument. Und das in vielerlei Hinsicht: Sie stehen zwischen den sehr frühen, juvenilen Erzählungen des schreibenden Soldaten und dem Revolutionär des metropolitanen Romans, der mit den bürgerlichen Erzähl- und Entwicklungslinien bricht. Und, die Berichte und Versuche der vorliegenden Schriften sind eine brandaktuelle Schau auf das, was der Westen den Nahen Osten zu nennen pflegt, ein Artefakt europäischer Kolonialpolitik, mit seiner artifiziellen Grenzziehung und Durchtrennung von Handelsstraßen und kulturellen Zusammenhängen, die das uns bis heute bekannte Pulverfass zeitigten.

Der damals 25Jährige Dos Passos reist zunächst von Oostende mit dem Zug bis Istanbul, wo er einige Zeit verbringt, bevor er sich aufmacht über den Kaukasus nach Batum am Schwarzen Meer, von wo aus er seine Reise fortsetzt bis nach Teheran, Bagdad und Damaskus. Istanbul wird geschildert als ein Jahrmarkt der Geheimen Dienste aller möglichen Großmächte und einer Stadt, in der die Türken selbst nur eine Randerscheinung darstellen. Die Erfahrungen der gerade annektierten oder kurz davor stehenden Sowjetrepubliken erlebt Dos Passos vor dem Hintergrund einer erdrückenden Hungersnot. Seine Mitreisenden, vor allem in dieser Weltregion kundige muslimische Händler oder Emissäre, verschaffen ihm Zugang zu sonst verschlossenen Quellen. Teheran dechiffriert der junge Amerikaner als einen Hort der Weltkultur, Bagdad als einen ewigen Zankapfel der Kolonialmächte und Damaskus als einen unüberschaubaren Moloch an Gefahren und Möglichkeiten.

Das Faszinierende an den unterschiedlichen Erzählungen ist die Modernität von Dos Passos´Sprache, mit der es ihm gelingt, jahrtausendealte Sinnzusammenhänge geschickt auf den Punkt zu bringen. In den Sätzen sehen wir schon das Üppige, Frevelhafte und Gefühlskalte, das uns später in seinem Meisterwerk Manhattan Transfer begegnet. Und auch hier arbeitet er bereits mit Ansätzen der Collage. Interessant dabei ist, dass die scheinbar für Manhattan Transfer und die U.S.A.-Trilogie entwickelten Collage- und Schnitttechniken bereits hier ausprobiert werden, obwohl ihr Anwendungsgebiet eher einer archaischen Deutung auf die Schliche kommen soll. Insofern ist Orient-Express die Vorbereitung auf den großen Wurf, erprobt an einem historisch vollkommen anderen Sujet.

Was über die Frage der Schreibtechnik und die Impressionen eines Reisenden hinausgeht sind die Reflexionen, denen Dos Passos vor allem während seiner siebenunddreißigtägigen Karawanen-Reise von Bagdad bis Damaskus auf einem Kamelrücken quasi erliegt. Der sich nur wenige Jahre später mit einer ungeheuren Verve zur Moderne bekennende junge Mann unterliegt hier einer Art Zivilisationsdepression, die sich auf das Tempo und die kalte Technik des Westens bezieht. Stark vereinfachend bringt er den Vergleich zwischen Orient und Okzident auf den Punkt: Während der Westen nach Stimulanzen sucht, die das Leben in neue Geschwindigkeiten einmünden lässt, sind die Menschen im Osten darauf aus, das Leben zu entschleunigen. Das sind nicht nur bis heute zutreffende Beobachtungen, sondern Erkenntnisse, die man den politisch Handelnden bei den immer wieder entflammenden Konflikten wünschen würde. Dos Passos selbst schloss daraus, dass wir Söhne Homers bräuchten, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus brächten und den Menschen die Angst nähmen. Dos Passos selbst hat es gar nicht erst versucht.