Viele Legenden ranken sich um die Figur und das Leben jenes Kaspar Hauser, der im Jahre 1828 bei Nürnberg aufgetaucht war und laut seiner Erzählung allein in einem dunklen Raum, bei Wasser und Brot und ohne jeglichen menschlichen Kontakt aufgewachsen war. Erstaunt hatte jene Erscheinung vor allem wegen ihrer urwüchsigen Intelligenz. Eine dieser legendären Erzählungen berichtet davon, dass man, um seine intellektuellen Fähigkeiten beschreiben und klassifizieren zu können, gleich ein ganzes Ensemble von Gelehrten eingeladen hatte, um ihn zu begutachten. Und dass das Gremium ihm verschiedene Aufgaben gestellt hatte, um weg vom Gerücht und hin zum wissenschaftlichen Urteil kommen zu können.
Eine der Aufgaben habe darin bestanden, Kaspar Hauser an eine Weggabelung zu stellen und ihm zu sagen, dass der eine Weg aus dem Dorf komme, in dem die Bewohner gezwungenermaßen immer die Wahrheit sagen müssten und der andere wiederum aus einem Dorf, in dem die Bewohner immer lügen müssten. Und es käme jemand auf Kaspar Hauser zu, und er wisse nicht, aus welchem Dorf dieser komme. Und er habe nur eine einzige Frage, die er stellen dürfe, um herauszufinden, aus welchem Dorf der Mensch komme, aus dem Dorf der Lüge oder dem Dorf der Wahrheit.
Während die Gelehrten darüber spekulierten, ob der Junge mit einer Negation, einer doppelten Negation oder wie auch immer mit einer Frage vorgehen müsse, die auf den Charakter des Dorfes abzielte, habe Kaspar Hauser, so die schöne Legende, mit einer einzigen, nahezu proletarisch-logischen Frage alle Zweifel, die mit den Tücken einer komplizierten Logik operierten, aus dem Rennen genommen. Denn er fragte schlicht und einfach: Bist du ein Laubfrosch?
Die Anekdote, denn mehr wird es nicht sein, versprüht dennoch großen Charme. Sie kommt mir immer in den Sinn, wenn ich mit Geschichten konfrontiert werde, die nahezu olfaktorisch das Aroma von Unwahrheit verbreiten. Wenn es schwerfällt, mit der Dechiffrierung komplexer, in einander verwobener Un- und Halbwahrheiten zu beginnen, um dann festzustellen, dass kaum noch jemand folgen kann. Man kommt der Konstruktion zwar mit viel Mühe auf die Schliche, aber es ist nahezu ausgeschlossen, den Akt der Entschlüsselung noch Dritten zu vermitteln.
Dann, in diesen Situationen, sehne ich mich nach einer einfachen Frage, die das Ganze mit Evidenz erschließt oder aufdeckt. So, wie Kaspar Hauser das in jener Anekdote tat. Ich suche quasi den Laubfrosch. Angesichts dessen, was vorgestern im deutschen Parlament geschah und wie überall darüber spekuliert wurde, sah ich wieder Kaspar Hauser an der Kreuzung stehen, der jemanden aus Richtung Parlament, aus welcher Fraktion auch immer, auf sich zukommen sieht und nur eine Frage hat, um herauszufinden, ob er die Wahrheit spricht oder nicht. Auf welche Idee käme er wohl, um die Lüge zu überführen? Oder zöge er das Schweigen vor? Wäre da gar jede Form der Logik überfordert? Und wenn selbst Kaspar Hauser schwiege, was sagte das über das Parlament aus?
