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Navalny und Assange: Ein Lehrstück!

Das Kuriose bei autoritären Regimes ist die Tatsache, dass bei ihrer Beurteilung die allein  Möglichkeiten ausreichen, um Geschichten zu etablieren. Ob sie stimmen oder nicht. Die Gewissheit, dass eine durch nichts kontrollierte Herrschaft alles nur Erdenkliche zu tun in der Lage ist, ohne dass irgendwer sie aufhielte. Und diese unbegrenzte Möglichkeit gibt der Phantasie eine Carte Blanche in der Beurteilung dessen, was tatsächlich geschieht. Autokraten interessiert es wenig, was über sie erzählt werden kann. Ihre Macht ist durch kritische Geschichten in der Regel nicht gefährdet. Es sei denn, es werden derer zu viele und irgendwann dreht sich die erzwungene Duldsamkeit um in offene Rebellion. Das sind dann die Stunden, wo die überall auf dem Sockel stehenden Despoten plötzlich irgendwo in Unterhose auf der Flucht in einem Hinterhof gesichtet  werden. 

Die Geschichtsbücher sind voll von diesen Erzählungen. Und dass es einmal in Russland anders ausgehen wird, ist eher unwahrscheinlich. Wer sich zu mächtig fühlt, begeht den ersten Fehler. Und wer Selbstkritik für eine nicht notwendige Übung hält, unterliegt einem weiteren Irrtum. Nicht, dass die Geschehnisse in Russland und der Tod eines Oppositionellen, der übrigens kein Kämpfer für die Demokratie war, nicht als Beispiel für die genannten Thesen geeignet wäre. Ganz im Gegenteil. Es allerdings für die eigene Unversehrtheit der Seele zu nehmen und weder um die eigene Macht zu fürchten noch der Selbstkritik den erforderlichen Raum zu geben, ist ein Irrtum, der sogar als Indiz für einen eigenen eingeschlagenen Weg zum Autoritatismus genommen werden kann. 

Die Bilanz der sich liberale Demokratien nennenden Staaten ist alles andere als unbefleckt. Und ein markanter Fleck, der dem des russischen ebenbürtig ist, ist der des Julian Assange. Sein Fehler war es, amerikanische Kriegsverbrechen aufzudecken. Seitdem wurde er weltweit gejagt, verleumdet, unsinnigen Anklagen ausgesetzt, in einer konzertierten Aktion so genannter lupenreiner Demokratien inhaftiert. Seit Jahren dämmert er in einem britischen Gefängnis seiner Auslieferung an die USA, die für die von ihm aufgedeckten Kriegsverbrechen zur Rechenschaft gezogen werden müssten, entgegen. Sein Tod ist gesetzt und vorprogrammiert. Statt sich für ihn einzusetzen wird über ihn geschwiegen und regnet es Bundesverdienstkreuze für eingebetteten Kriegsjournalismus. 

Man sehe sich die Protagonisten an, wie sie bei ihrem Kriegsrat in München reihenweise Krokodilstränen über den Tod Navalnys vergossen haben! Und betrachtet man die Tatsache, dass nicht einer den Mut, die Haltung und den Anstand hatte, in diesem Zusammenhang an Julian Assange zu erinnern und seine Freiheit zu fordern, so ist sicher, dass nicht nur die Doppelmoral, sondern auch die heimliche Akzeptanz autokratischer Strukturen und Praktiken ein Massenphänomen der dort Versammelten darstellt.

Die Ereignisse haben wieder einmal das Zeug zu einem Lehrstück. Sie zeigen Analogien in der Auffassung, wie man die eigenen Einflusssphären sichern und erweitern kann. Wer so disponiert ist, denkt nicht an Frieden, und auch nicht an Sicherheit. Es geht um Krieg. Und die strategischen Sandkastenspiele bezüglich der notwendigen europäischen Verantwortung mit ihrer inkludierten Militarisierung sollen den USA den Rücken frei machen in Bezug auf die Auseinandersetzung im südchinesischen Meer. In diesem Szenario gibt es keine Guten und Bösen. Das Böse wirkt in viele Richtungen. Das geht eine zeitlang gut. Bis die erzwungene Duldsamkeit in offene Rebellion umschlägt.  

Eine Demonstration der Macht?

Das Mantra durchdringt die ganze Gesellschaft. Es fühlt sich an wie die höchste Tugend. Selbst beim Fußball. Wenn das erfolgreiche Staatsmonopol des FC Bayern einmal wieder eine andere Mannschaft deklassiert. Dann schwärmen die Reporter von einer Demonstration der Macht. Wenn sie das deklamieren, dann spürt man, wie sie einen leicht schauderndes Gefühl erotischer Erregung durchströmt. Die Feststellung, dass der Fußball mit allem, was dazu gehört, bis heute immer ein sehr guter Seismograph für das war, was sich als gesellschaftliche Befindlichkeit bezeichnen ließe, bleibt aus meiner Sicht nach wie vor gültig. Die zitierte Demonstration der Macht bleibt im deutschen Fußball nur dem erwähnten Monopol vorbehalten. Elf Deutsche Meisterschaften hintereinander sind der Beleg. Wenn solche Verhältnisse herrschen, dann herrscht das Monopol.

Und so, wie sich diese Betrachtungsweise bis in den Fußball fortpflanzt, verhält es sich nicht auch, sondern gerade mit der Politik. Unsere Welt, der Westen, beherrscht von den USA, kennt nichts anderes als deren Doktrin. Full Spectrum Dominance heißt sie. Sie ist seit ihrer Formulierung nie modifiziert worden. Die stereotypische Taktik, die sich daraus ableiten lässt, ist immer gleich. Es geht um die Demonstration der Macht. Jede Situation, in der die totale Dominanz angezweifelt werden könnte, ruft die Drohung hervor, es nicht zu weit zu treiben. Sonst folgt die zitierte Demonstration der Macht. Die ultima Ratio der Machtdemonstration ist immer der Krieg. Der ultimative Krieg. Bis zum Einsatz von Atomwaffen. Das hat lange Zeit funktioniert und ist immer noch ein Pfund in der Hand des westlichen Monopols.

Was sich verändert hat, ist die Disposition der Mitspieler. Russland hat sich vom Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend erholt. China ist zu einem Wirtschaftsgiganten ausgewachsen, bei dem die USA bis über beide Ohren verschuldet sind und der auch die Messer gewetzt hat. Hinzu kommen ökonomisch immer stärker werdende Staaten wie Brasilien, Indien oder Indonesien, die sich getrauen, ihre Interessen auch politisch zu formulieren. 

Die Ignorierung von Kräfteverschiebungen kann immer der erste Schritt vom Ende einer Ära der Dominanz sein. Denn, und das wird gerne verdrängt, die Reihe der veranstalteten Machtdemonstrationen waren alles andere als überzeugend. Afghanistan, Irak, Libyen und nun die Ukraine, das alles hat nicht gezeigt, dass der vereinigte Westen unter Führung der USA die Macht demonstriert und danach keine Fragen mehr aufkommen lassen hätte. Es waren mehr oder weniger verunglückte Veranstaltungen, die sehr viel gekostet und gewaltige Friedhöfe hinterlassen haben. Das, was man unter einer Demonstration der Macht versteht, waren diese Episoden nicht. Und wer glaubt, sie hätten bei denen, die es hätte beeindrucken sollen, Angst und Schrecken hinterlassen, erliegt einer schweren Täuschung.

Und die aktuellen Ereignisse in Israel, das von seiner Taktik stets analog zu den USA gefahren ist, dokumentieren, dass die Demonstration der Macht, die nur Sinn macht, wenn die eigene Unverletzlichkeit unstrittig ist, als politisches Leitthema zu ihrem Ende gekommen ist. Eine der Ursachen ist das tatsächliche wirtschaftliche, politische und militärische Erstarken anderer Nationen auf diesem Globus. Eine andere ist intrinsisch. Das Gift, das gleich der Wirkung von Arsen die Reputation des Westens zerstört hat, ist die Doppelmoral. Jeden Tag sind wir Zeugen ihrer Verlogenheit. Und nicht nur wir. Der Rest der Welt schaut zu. Irgendwann wird die Demonstration der Macht zur Farce. 

Lässliche Sünden? Im politischen System?

Wo beginnt eine Fehlentwicklung? Sicherlich nicht dann, wenn die ersten Anzeichen dazu lesbar sind. Es erfordert ein waches Auge und einen tiefen Sinn für die mögliche Gravität einer Entwicklung, um die Zeichen rechtzeitig lesen zu können. Für mich steht außer Zweifel, dass alles, was entsteht, nicht nur laut Mephistopheles wert ist, irgendwann unterzugehen, sondern auch frühzeitig als positiv oder negativ diagnostiziert werden kann. Im Deutschen existiert die so treffende Formulierung der lässlichen Sünde. Sie beschreibt das, was als Wurzel vieler Übel angesehen werden kann. Das Hinwegsehen über einen Misstand, oder eine Inkonsequenz oder was auch immer, um sich nicht gegen den Strom des Einverständnisses wenden zu müssen. Nun lass ihn doch, ist doch alles nicht so schlimm, es gibt Schlimmeres.

Ja, die Toleranz gegenüber derartigen Entwicklungen ist oft angebracht, denn sonst verwandelten wir unser Leben in eine Zuchtanstalt ohne Lebensqualität. Wer es nicht erträgt, Fehler anderer zu tolerieren und über sie hinwegzusehen, der ist ein Pedant oder, wie eine strenge Lehrerin früherer Tage so furchtbar ausdrückte, ein unliebsamer Zeitgenosse. 

Insofern wäre meine anfangs formulierte These, die die Notwendigkeit eines Frühwarnsystems für Fehlentwicklungen beinhaltet, eine überflüssige Bemerkung gewesen, gäbe es nicht Sujets, die eine Unterscheidung in der Haltung verlangen. Ist das duldsame, tolerante Verhalten gegenüber Fehlleistungen von Individuen durchaus auch als ein Gebot einer humanistischen Erziehung zu sehen, so ist die Notwendigkeit brutaler Konsequenz in der Politik und im politischen System eine Voraussetzung vernünftiger Zustände. Die Regeln des Zusammenlebens müssen klar sein und für alle gelten. Ist das nicht der Fall, dann schleichen sich Phänomene ein, die weitreichend sind.

Gelten die Regeln nicht für alle, so ist die Legitimation des Systems dann gefährdet, wenn die Mehrheit beginnt unter dem Privileg der Missachtung zu leiden. Wird die Regelverletzung durch Einzelne bagatellisiert, so ist damit zu rechnen, dass sich daraus ein Massenphänomen entwickeln wird. Sind die Maschen, das System zu umgehen gar für manche Gruppen bewusst so angelegt, dann ist es aus mit der Legitimität. 

Das Spannungsfeld zwischen Toleranz und Konsequenz wird vor allem in Krisenzeiten von allen Teilen der Gesellschaft, aus jeder nur möglichen Perspektive, beobachtet. Wer glaubt, auf der einen Seite mit der Krise eine Verschärfung der Regeln begründen zu müssen und auf der anderen Seite den Vorhang des Schweigens über gravierende Verstöße vertuschen zu können, begeht einen gravierenden Fehler. Das ist kein Spiel mit dem Feuer, sondern Brandstiftung.

Die notwendige, nahezu logische Konsequenz eines Handelns, das einerseits den Regelverstoß bagatellisiert und ihn andererseits zu skandalisieren, ist die Etablierung einer Doppelmoral, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt systematisch zerfrisst. Die beim Regelverstoß Privilegierten tendieren dazu, ihr Verhalten zu kultivieren und beim Verstoß in immer neue Dimensionen vorzudringen. Und die bei Verstoß Gemaßregelten sehen sich als Underdogs und Parias und verlieren damit ihren Glauben an die Gesellschaft. Und die große, staunende und schweigende Mehrheit bleibt zurück im leeren Entsetzen.

Von dieser Geschichte, die leider immer neue Daseinsformen mit jeder neuen Krise darbietet, ist keine Moral zu berichten. Sie dokumentiert eher einen fortschreitenden Zerfallsprozess, der nicht mehr aufgehalten werden kann. Zumindest nicht mit einem politischen Argument. Die Politik, geübt in der systemischen Inkonsequenz, kann nicht oder traut sich nicht zur Konsequenz zurückzukehren. Die in ihren Verstößen Privilegierten sind mittlerweile der Überzeugung, ihr Verhalten sei bereits das System. Und die Gemaßregelten sinnen auf Rache.