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Die Kritik im digitalen Zeitalter

Die digitale Revolution hat vieles hervorgebracht. Vor allem Beschleunigung durch Übertragungsgeschwindigkeit und omnipräsenten Zugriff. Gerade diese Phänomene werden sehr gerne als die Bahn brechenden Errungenschaften beschrieben. Nicht selten werden ihnen auch demokratische Tugenden zugeschrieben. Bei jedem Volksaufstand wird dieses Momentum wiederholt. Und nicht zu Unrecht wird bemerkt, dass Ausgangs- und Nachrichtensperren, verhängt durch diktatorische Regimes, keine Wirkung mehr haben. Zumindest bei jenen, muss eingeschränkt werden, die digitale Technologie zur Verfügung haben. Was auffällt, ist das das momentan Subversive z.B. nach einem Sturz nicht mehr weit recht. Qualitative Änderungen, die den Aufbau eines neuen, demokratischen Systems mit entsprechenden Institutionen zugrunde liegen müssen, gelingen nicht.

Spätestens im 17. Jahrhundert fand die Kritik als das Mittel der Meinungsbildung in Europa Einzug in die gesellschaftliche Entwicklung. Der Etablierung dieses Denkinstrumentes ist alles zu verdanken, was die zivilisatorische Entwicklung und die Etablierung der bürgerlichen Gesellschaften ausmacht. Der durch die Kritik verursachte gesellschaftliche Diskurs, die Legalisierung von Rede und Gegenrede, der damit verbundene Wechsel der Perspektiven, die Beschreibung und Bewertung von Meinungen und Zuständen, bildete sich in einem fortan dialektischen Prozess heraus, der nicht immer zu vernünftigen Schlüssen führte, aber dennoch das Despotische und Eindimensionale verbannte.

Vor allem mit der massenhaften Verbreitung der Social Media wurde, gemäß der Funktionsweise der digitalen Technik, die dieser zugrunde liegt, das binäre System der Betrachtung kulturell verankert. Die auf das Duale reduzierte Option von Like und Dislike ist mittlerweile in vielen Köpfen verankert. Zumeist handelt es sich dabei um die tatsächliche Entsprechung der englischen Begrifflichkeit von Gefallen und Missfallen und schließt, neben der Dualreduktion, auch noch eine rationale Betrachtung aus. Es handelt sich um das Ende der Kritik.

Umso logischer ist es, dass genau das stattfindet, wenn die klassischen Foren der Kritik untersucht werden. Das exklusiv den in den Social Media sozialisierten Zeitgenossen zur Verfügung stehende Denkwerk reduziert sich auf diese beiden Kategorien. Elektronisch kommunizierte Kritiken im klassischen Sinne finden sich in dieser Ödnis wieder. Rezensionen von kulturellen Werken werden gelikt, wenn sie dem Weltbild der Lesenden entsprechen und sie werden dislikt, wenn dieses nicht der Fall ist.

Allein der einfache Sachverhalt, dass z.B. eine Rezension im Sinne der Kritik gut geschrieben ist, spielt dabei keine Rolle. Sie kann sogar brillant sein, d.h. sie kann den Gegenstand der Betrachtung erfassen und beschreiben, sie kann die verschiedenen Dimensionen skizzieren, sie kann die unterschiedlichen Aspekte herauskristallisieren, sie kann die Stärken und Schwächen akzentuieren, sie kann die eigenen Maßstäbe kommunizieren und zu einem Urteil kommen, dessen Zustandekommen nachvollziehbar ist, alles vergeblich. Sie kann denen, die das Werk erschaffen haben, wiederum ihre handwerkliche Qualität wie ihr kreatives Potenzial bestätigen und sie kann ihre Motivlage illustrieren, es ändert nichts. Werden die gegebenen Urteile und Vorurteile nicht bestätigt, erfolgt in der Regel ein Dislike, weil bei der permanenten Öffentlichkeit des Urteils ansonsten die Gefahr aufleuchten könnte, in der Nähe einer Position zu sein, die dem politischen Mainstream widerspräche.

Im Grunde genommen haben wir es mit der Liquidierung der Kritik als Instrument des aufklärerischen Denkens zu tun. Auch wenn es sie noch gibt: Das Reservoir derer, die sie noch beherrschen, ist bedroht. Gleich voll gefressenen Aristrokraten im untergehenden Rom sitzt ein pauperisiertes Publikum vor dem Display auf dem Sofa und senkt oder hebt den Daumen über die geistigen Leistungen, die den Treibstoff für die Zivilisation der letzten Jahrhunderte ausmachten. Dies ist ein sangloses Ende eines heroischen Zeitalters. Bleibt zu hoffen, dass sie sich lange wehrt, die beißende Kritik.