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Untertanen – im digitalen Zeitalter

Wenn Kollektive zeitversetzt lernen, hat dies skurrile Situationen zur Folge. Während in den skandinavischen Ländern, die ihrerseits Pioniere bei der Digitalisierung des Schulunterrichts waren, rigoros die digitalen Hilfsmittel aus den Klassenzimmern entfernen und die großen Tycoone  aus dem Silicon-Valley ihren Nachwuchs auf Schulen schicken, die mit ihrer analogen Vorgehensweise werben, hatten wir hier jüngst eine Bund-Länder-Konferenz zu protokollieren, in der die Digitalisierung der Schulen mit einer neuen Offensive bedacht werden sollte. Länder mit hinreichender Erfahrung in der Gestaltung des Unterrichts unter digitalen Vorzeichen und Eliten, die ihre astronomischen Gewinne mit der Verbreitung digitaler Maschinen und Programme verdienen, wenden sich ab vom Trend, wenn es um die Ausbildung und Erziehung des Nachwuchses geht und hier, ausgerechnet in Deutschland, wo man sich auf eine hohe Schule der Geistigkeit beruft, kann die Unterwerfung des jungen Verstandes nicht schnell genug voran gehen. Zudem ist der Ausdruck „schnell“ in diesem Kontext eine heillose Verharmlosung des Schneckentempos auf dem Terrain der Innovation.

Nicht, ja, ein langweiliger, aber in diesen Breitengraden notwendiger Satz, nicht jede Innovation ist mit Skepsis zu betrachten. Und vieles von dem, was wir heute bei unserer Lebensgestaltung schätzen, entstammt dem Prozess technischer Innovationen. Der Prozess der Entmündigung und das Nicht-Erlernen eigener analytischer Vorgehensweise jedoch ist durch die Perfektion algorithmischer Programmierung nachweislich beschleunigt worden. Die Vorstellung, dass diese technischen Hilfsmittel dem Subjekt Mensch die Arbeit erleichtern, hat sich in vielen Bereichen als schöne Illusion erwiesen. So, wie der Trend geht, wenn man ihm nicht durch bewusste Steuerung begegnet, verwandelt das gedachte Objekt (Maschine) das Subjekt (Mensch) in das Gegenteil. Die artifizielle Intelligenz, die gerade mit ungeheurer Wucht aufschlägt, degradiert den Menschen immer wieder zum Objekt und viele weisen dem eigentliche Objekt, dem Werkzeug, den Subjekt-Status zu. Dass zumindest einige Länder und Sozialgruppen dieses erkannt haben, regt zum Hoffen an. Dass das in unserem Land nicht so ist, vergrößert die Betrübnis.

Der Beispiele, wie sich bereits verblendete Zeitgenossen von der im klassischen Sinne in allen gesellschaftlichen Bereichen vorherrschenden technokratischen Vorherrschaft weiterhin täuschen lassen, gibt es viele. Die sich am meisten aufdrängendsten sind die, in denen Eltern oder Lehrende stolz darauf sind, wenn Schülerinnen oder Studenten mittels der KI Aufgaben erledigen lassen können, ohne selbst im handwerklichen Sinne dazu in der Lage zu sein. Sie sind trotz des Lobes zu bloßen Bedienern degradiert, denen ein Gabelstaplerfahrer mit seinen von ihm geforderten Fertigkeiten und Fähigkeiten weit überlegen ist. 

Diese Form der kritischen Reflexion als eine rückwärts gewandte, dem Fortschritt generell skeptisch gegenüberstehende Haltung zu bezeichnen, wie dies allzu oft geschehen ist und immer wieder geschieht, muss leider als ein Indiz für das brutale Fortschreiten der Entmündigung gewertet werden. Da schwingen sich Exemplare der Gattung, die ihrerseits immer fester an die Existenz und das Vermögen von Heinzelmännchen glauben, dazu auf, das bisschen Geist, das noch auf dem Bodensatz einer konsumistisch verblödeten Öffentlichkeit aufzufinden ist, als die Rückständigkeit aus einer anderen Zeit zu verkaufen.

Ja, es bleibt dabei, hier geht alles etwas langsamer. Das Ringen um Prinzipien überstrahlt die Pragmatik, der Besitzstand, so bemitleidenswert er auch ist, schützt vor der Überraschung, die neue Wege mit sich bringen könnten. Also stellen wir jetzt noch mehr Computer in die Schulen. Und lernen wir bitte nicht, mit dem eigenen Kopf zu denken. Wo kämen wir dahin! Wir brauchen Untertanen – im digitalen Zeitalter. 

Die Romantik im digitalen Zeitalter

Es ist eine Massenbewegung. Überall, wo konzentriert junge Leute leben, bekommen die Viertel ein anderes Gesicht. Plötzlich tauchen Cafés auf, die sich Lädchen nennen, es gibt Kuchen nach Omas Rezepten, es entstehen Tauschbörsen für Klamotten, in manchen Lokalen muss gar nichts konsumiert werden, sondern es zählt die Zeit, die man dort verbringt. Es wird wieder gestrickt, gekocht nach alten Rezepten, das persönliche Outlook ist retro, Anbieter werben mit Butterbroten wie früher bei Oma, das Mobiliar der Restaurants und Cafés kommt aus Speichern und Kellern und es hat eines gemeinsam: es ist hässlich und unbequem. Egal! Hauptsache alles, womit und wo sich die Jungen bewegen, erweckt den Anschein, als sei es so wie früher. Zumindest so, wie sie sich das Früher vorstellen. 

Wie immer, wenn die Sehnsucht nach der Vergangenheit aufflammt, werden die bösen, fürchterlichen, beschwerlichen Implikationen der herbeigesehnten Zeiten ausgeblendet. Wen interessiert, wie die Arbeitsbedingungen damals waren, wen interessiert, ob damals ein pädagogisches Instrument an Schulen Schläge waren, wen interessiert es, ob die liebe Oma vom bösen Opa behandelt wurde wie ein Haustier? Nein, Verklärung sieht anders aus, das muss schön und kuschelig sein und vor allem eines leisten: der empfundene Kälte der Gegenwart muss eine Portion sozialer Wärme entgegengestellt werden. 

Richtig! Nicht alles, was früher war, ist schlecht gewesen. Und richtig! Vieles von dem, mit denen die Menschen heute konfrontiert sind, entspricht nicht der Zweckbestimmung unserer Gattung. Fremdbestimmung ist immer etwas Furchtbares! Doch unreflektiert die Vergangenheit als Alternative zu zitieren, hat etwas Schamanenhaftes!

Das, was sich vor allem in Quartieren zumeist junger, gut gebildeter Menschen beobachten lässt, ist eine neue romantische Bewegung. Und, bevor ein Urteil vorschnell entsteht, vergegenwärtigen wir uns der Geschichte der historischen Romantik. Zunächst warf man ihr eine reaktionäre Einstellung vor, dann, später, entdeckte man darin auch eine Art Protest gegen die heraufziehende Moderne. Und so empfiehlt die Logik, dass der Retro-Lebensstil eine romantische Bewegung mit Doppelcharakter darstellt. Zum einen verklärt sie unberechtigter Weise die Vergangenheit als soziales Zukunftsmodell, zum anderen wendet sie sich ab von der brutalen Objektivierung des Menschen durch den Digitalismus. Und letzteres ist auf jeden Fall ernst zu nehmen.

Die Generation, die sich da zum Teil von der Wucht der Gegenwart in ihrem Lebensstil abwendet, ist kein überfordertes Residuum aus der Vergangenheit, sondern ein essenzieller Bestandteil der Gegenwart. Das sind Menschen, deren Hirnfunktionen längst dem digitalen Zeitalter angepasst sind und die sich in der digitalen Infrastruktur schlafwandlerisch sicher bewegen. Da ist eine Kerngruppe der aktuellen Ära mit den sozialen Implikationen derselben unzufrieden. Das hat Potenzial!

Es ist zu bemerken, dass die Repräsentanten der Technologie, die das Individuum in seiner Funktionsweise anonymisiert und vom handelnden Subjekt in ein instruiertes Objekt tendenziell zu verwandeln sucht, in sich eine Gruppe birgt, die mit dieser Tendenz mental nicht einverstanden zu sein scheint. Es ist daher, auch wenn es schwer fällt, nicht angeraten, sich ausgerechnet mit dieser Gruppe wegen ihrer kulturellen Rückwärtsgewandtheit anzulegen, sondern in sie den Gedanken der Aufklärung zu tragen. Die Sehnsucht nach der Vergangenheit ist auch ein Protest gegen die Gegenwart. Das ist das Vereinende, von dem ausgegangen werden muss. In der momentan verklärten Vergangenheit gab es nicht nur Butterbrote und Wollsocken. Da gab es auch Streiks. Und sogar Aufstände. 

Heiß und kalt, wahr und falsch.

Marshall McLuhan war es, der sich über die Temperatur und Elektrizität von Nachrichten Gedanken gemacht hat. Seine These, dass das Medium die Botschaft selbst ist, gehört zu dem Kognitiv-Avantgardistischsten, was in den letzten hundert Jahren formuliert wurde. Demnach müssten wir jetzt in einem Zeitalter leben, in dem durch das Tempo der technischen Übermittlung jede Nachricht nahezu kocht. Es ist aber nur auf der einen Seite so, weil der Resonanzkörper der Nachrichten menschlich ist und dort nur das angemessen gewürdigt werden kann, was kognitiv wie emotional verarbeitet werden kann. Und da zuerst der Bauch reagiert, bevor der Kopf sich zu Wort melden kann, ist der Fokus des Journalismus mehr und mehr vom Kopf auf den Bauch gerichtet worden.

Das hat das gesamte Berufsbild des Journalisten verändert. Der kühle Rechercheur, der alles zweimal checkt, bevor er es sichtbar formuliert, der versucht, seine eigene Betrachtung aus dem Geschriebenen herauszuhalten, bevor er es deutlich sichtbar als seine eigene Meinung formuliert, dieser Typus ist nahezu passé. Diese Entwicklung ist nicht unbedingt das Werk böser Geister, sondern ein Gesetz der Ökonomie: Es geht um den massenhaften Absatz von Nachrichten, es geht um Märkte. Und wenn das Entree für diesen Markt die Emotion ist, so ist es logisch, dass das Berufsbild derer, die Nachrichten zum Konsum aufbereiten, ein anderes geworden ist.

Das erste Adjektiv, das seinen Platz im neuen Journalismus bekommen hat, war die mit der Übertragungsgeschwindigkeit einher gehende Geschwindigkeit der Nachrichtenaufbereitung. Schon dort ging die seriöse Recherche unter und es gedieh seitdem die flüchtige Kolportage. Und dann geht es um die Produktion von Emotionen. Emotionalisierung entsteht über Vereinfachung und die direkte Ansprache des Bauchgefühls. Wie das geht, ist nirgendwo sicherer zu beobachten als bei der Bild-Zeitung. Dort sitzen die Meister dieses Journalismus und das Design ihrer Arbeit gilt allen als Blaupause, die schnell große Massen erreichen wollen.

Leider haben sich die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten diesem Trend angeschlossen, obwohl sie per Gesetz einen anderen Auftrag hatten. Sie müssen so arbeiten, dass der kühle Verstand die Nachrichten empfängt und in die Lage versetzt wird, sich eine eigene, kritische Meinung zu bilden. Das ist, vor allem bei brisanten politischen Themen und Auseinandersetzungen nicht mehr der Fall. Die Ökonomie obsiegt auch hier über das Gesetz: Es muss alles sehr schnell gehen, worunter die Recherche leidet, es wird dramatisch vereinfacht und emotionalisiert. Dass die beschriebene Vorgehensweise auch mit den wissenschaftlichen Definitionen von Propaganda korreliert, versetzt niemanden in große Aufregung. Es funktioniert ganz nach dem positivistischen Motto, je mehr Klicks, desto größer der Anteil an Wahrheit.

Neben der beschriebenen Entwicklung des Journalismus in Zusammenhang mit der Digitalisierung der Nachrichtenübermittlung ist die Philosophie, die den Zeitgeist repräsentiert wie keine andere, der Positivismus. Er ist nicht der Schlüssel zu neuer Erkenntnis, sondern der letzte Sargnagel zur Verabschiedung von der Wahrheit. Das, was als emotionalisierte Ware Eingang in die menschliche Wahrnehmung findet, aufgrund seiner Massenerscheinung als die Wahrheit schlechthin zu feiern, ist die Todsünde des digitalen Zeitalters.

Wie sich die Gesellschaft mit diesem Phänomen letztendlich auseinandersetzen wird, ist noch nicht entschieden. Fest steht nur, dass der Krieg gegen die Rationalität dahin führen wird, wo das Barbarische dominiert. Es handelt sich hier nicht um ein lässliches Ärgernis, sondern es ist eine Frage zivilisatorischen Überlebens.