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„Wir müssen hier raus!“

Man kann es sich auch einfach machen. Die eigene Existenz, so wichtig sie auch sein mag, ist nichts, solange sie nur für sich steht. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Dass dem so ist, sehen momentan viele, die seit Monaten durch die pandemisch begründete Isolation auf sich gestellt sind. Da tauchen Phänomene auf, die bis dato für viele Menschen unbekannt waren und als eine neue Entdeckung bestürzt zur Kenntnis genommen werden. Da macht sich bemerkbar, wie wichtig der soziale Austausch ist. 

Oft beginnt es mir einem zunehmenden Kraftaufwand, um die Tagesroutinen zu erledigen. Die Monotonie übermannt viele, sie werden lethargisch, die anfänglich gefeierten Videokonferenzen werden immer weniger, weil selbst die nicht das ersetzen, was als die eigentliche Normalität gilt. Sollte virtuelle Kommunikation zustande kommen, stellt man fest, dass der Gesprächsstoff ausgeht. Irgendwie fehlen die Worte, um noch etwas zu sagen, und immer mehr fehlt auch das Motiv, sich mitzuteilen. Die Erkenntnis, die sich aufdrängt, ist die, dass zum Menschsein mehr gehört als die Versorgung mit Lebensgütern und die technische Möglichkeit der Kommunikation. „Wir müssen hier raus!“ hieß ein Politsong längst vergangener Zeiten, der sich dennoch sehr gut eignen würde, um das gegenwärtige Lebensgefühl treffend zu beschreiben.

Normalerweise ist das, was die einzelne Existenz beschreibt, auch immer zutreffend für das gesellschaftliche Dasein. Nur, und das ist eine weitere Erkenntnis, ist die Weise in der gegenwärtigen Zeit alles andere als normal. Denn schaut man auf das, wie momentan das Dasein reflektiert wird, kommt man zu dem Schluss, dass der Isolationismus regelrecht zelebriert wird. Dass der Fokus auf den Zuständen im eigenen Land liegt, ist zunächst naheliegend. Denn wer wollte nicht wissen, ob und/oder wie lange die zunehmend depressive Atmosphäre noch vorherrscht? Sich darauf jedoch zu beschränken und die Zeit regelrecht zu nutzen, um das Bild zu vermitteln, wir markierten hier, irgendwo im Zentrum Europas, gleichzeitig den Mittelpunkt der Welt, ist eine verhängnisvolle Sichtweise.

Zwar werden täglich Ereignisse aus allen Teilen der Welt gemeldet, jedoch stets mit einer eindeutigen Einschätzung, die sich nicht auf den Versuch stützen, zunächst einmal ein genaues Bild von dem zu bekommen, was sich dort eigentlich ereignet, sondern immer mit Appellen oder Ratschlägen verbunden, die den eigenen Maßstäben entsprechen. Das führt zu einer Art Hype, der die Illusion nährt, man habe alles im Griff und müsse sich nicht mehr die Arbeit machen, das Wesen dessen, um was es geht, erst einmal zu erfassen. Und, um diagnostisch zu werden, dieses Verhalten entspricht einer Behäbigkeit, die der Lethargie entspringt und suggeriert, man sei Herr der Lage. Tatsächlich aber handelt es sich um eine gefährliche Art der Selbstüberschätzung, die einer Illusion entspringt, die mit den tatsächlichen Verhältnissen kaum noch etwas zu tun hat.

Der Gestus, in der Lage zu sein, die Welt retten zu können, mag die einzelne Akteure in gewisser Weise beruhigen. Diesen Gestus als politisch richtungsweisend und als klug zu betrachten, ist ein Spiel mit dem Feuer. Weise wäre es, der existenziellen Erfahrung zu folgen, dass nur die direkte Interaktion mit dem Rest der Welt dazu führen kann, ein realistisches Bild von den Zuständen zu erhalten. Und dann wird die Erkenntnis am Horizont auftauchen, dass die Welt nicht darauf wartet, von uns beglückt zu werden. In günstigem Fall wird sie uns anbieten, einen Teil dazu beitragen zu können, vieles zum Besseren zu wenden. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.   

Diese Welt retten? Ein Re-Framing

Nein, nichts wird gut. Und vor allen Dingen nicht wieder. Denn wieder gut würde bedeuten, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Und das, soviel ist sicher in einer unübersichtlichen Lage, waren wir nicht. Die Bilanz, zu der die Pandemie zwingt, ist verheerend. Der Unterschied zwischen Arm und Reich war noch nie so groß, die Verwüstung von Natur wie Mensch hatte niemals solche Ausmaße und die Lernfähigkeit, fassen wir uns an die eigne Nase, war noch nie so dürftig. In der Krise, so heißt es, zeige sich, ob Systeme das Potenzial haben, zu überleben. Na dann, gute Nacht. Denn nichts deutet darauf hin, dass an den Ursachen der grausamen Bilanz gearbeitet würde. Weiter so, heißt die Parole, geschmückt mit der fatalen Hoffnung, dass alles wieder so wird, wie es war. Ja, wer will das denn? 

Gerade las ich einen Roman, der in den Wirren der 1920iger Jahre in Deutschland spielt und das ganze Auf und Ab und die Suche nach einem Weg sehr gut illustriert. Und da tauchte das Zitat einer bayerischen Bäuerin auf, das mich nachdenklich stimmte, weil es von tiefer Weisheit zeugte: „Was sie doch immer dahermachen mit dieser beschissenen Welt!“ Es handelte sich um eine Frau, die nichts kannte als Verantwortung und Arbeit, von morgens früh bis abends spät, und die nie Zeit und Gelegenheit hatte, um sich über Politik Gedanken zu machen. 

Alle seien daran erinnert, dass es sich bei dieser Frau, vom Prototypen her, um die Mehrheit der Weltbevölkerung handelt. Ob sie, sollte sie der Unmut übermannen, sich noch einen Dreck um diese ihre beschissene Welt scheren, ist fraglich. Diese Destruktionskraft übersteigt alle Waffenarsenale. Und wenn die Zorndepots voll sind, dann kann alles geschehen. In den Zentren des mittelständischen Wohlstands hat man diese Realität aus den Augen verloren. Und denen, die das System mit immer weiter gehenden Macht- und Bereicherungsphantasien befeuern, ist es in ihrem Junkie-Dasein völlig Wurscht, was mit dem Rest geschieht.

Re-Framing nennt man die Technik, wenn man aus einer schlechten Nachricht durch die Einbettung in einen anderen Rahmen eine positive Option macht. Gehen wir davon aus, dass diese beschissene Welt nicht mehr zu ändern ist, dann werden die Optionen klar. Es gibt nichts mehr zu verlieren, es darf nicht so weitergehen, wie es war, und es kann nur noch gewonnen werden, wenn es anders ausgeht, als zu vermuten. Das hört sich doch schon ganz anders an und hebt sich wohltuend ab von dem Lamento über eine verlorene Welt, womit der Irrweg in die Dauerkrise gemeint ist.

Gehen Sie, ab dem kommenden Montag, durch die Straßen Ihrer Stadt und schauen Sie genau hin. Flanieren Sie an geschlossenen Museen und Theaterhäusern, Kinos und Restaurants vorbei, betrachteten Sie die dicht gedrängten Reihen vor den Brutal-Discountern, beobachten Sie, in welchen Stadtteilen die Polizei besonders patrouilliert, sehen Sie sich die Menschen an, bei denen sich die Armut aus jeder Pore meldet und halten Sie die Ohren offen, ob Sie das Lachen hören, das es längst nicht mehr gibt. Gehen Sie an den Schaufenstern vorbei und sehen Sie sich den ganzen Ramsch an, der überall auf der Welt gleich ist. Und denken Sie an den Satz der bayrischen Bäuerin. Wir sollten nicht soviel dahermachen, mit dieser beschissenen Welt. Wenn überhaupt, dann sollten wir sie ändern.