Schlagwort-Archive: die destruktive Kraft der Angst

Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn

Jede öffentliche Diskussion ist auch ein Symptom. Sie zeigt, womit sich eine Gesellschaft beschäftigt, was sie umtreibt und welche Befindlichkeiten dominieren. Blickt man auf die Themen, die momentan im viel zitierten Sommerloch stattfinden, dann könnte der Eindruck entstehen, dass das, was durch die Gazetten zieht, ein Ausdruck von Langeweile ist, der mangels tatsächlich gesellschaftlich relevanter Themen entstanden ist. Nur, und da sollte man sich vor Illusionen hüten, brisante politische Themen gibt es genug, zumal die Republik in gut zehn Wochen vor einer Bundestagswahl steht.

Das Portfolio der angesagten Themen dieser Tage dreht sich um Covid-19, wie sollte es auch anders sein, um die Korrektur von Sprachgewohnheiten im Deutschen, um Studienabschlüsse, Stipendien, Steuermeldungen und Publikationen einer Kandidatin für das Kanzleramt, um das Klima, eine Fußballeuropameisterschaft und anstehende Olympische Spiele. Abgesehen von dem Erstaunen über das Ausbleiben von essenziellen Diskussionen, die für dieses Land vital sind, wie der Zustand und die Verfasstheit des Rechts, die Organisation des Staates und seiner Bürokratie, die klaffende Wunde sozialer Ungleichheit oder die Sicherheit in der Welt, die von vielen schmerzlich vermisst werden, fällt auf, dass die gewählten Themen alle mit einem Phänomen behaftet sind, das unter dem Titel Doppelte Standards gut beschrieben ist.

Da werden gesunde Bürgerinnen und Bürger, die sich umsichtig und vernünftig verhalten,  zunehmend diskriminiert, da beginnen die pawlow´schen Hunde einer sinnfreien Bürokratie damit, Begriffe aus dem Sprachgebrauch zu streichen, die nicht im entferntesten mit Diskriminierung und Rassismus zu erklären sind, da werden Täuschungsmanöver und bewusste Falschinformationen einer Kandidatin bagatellisiert, da wird hart an der Illusion gearbeitet, durch ein politisches Zurückbomben der Produktivkräfte in ein vor-industrielles Zeitalter bewahre man die Menschheit vor einem Klimawandel, da werden rund um Sportereignisse Ressentiments geschürt und bestätigt, die Ausdruck einer Verrohung sind, die die große Geldmaschine und ihre Propagandaorgane bewirkt haben. Passierte das alles in anderen Gefilden, dann wäre die Empörung groß und man zögerte keine Minute, um sich in den vielen Foren zu entladen. Selbstverständlich ohne eigene Konsequenz.

Dass diese Mechanismen, die von außen betrachtet dazu führen, am Zustand dieses Landes zu zweifeln, fällt niemandem so recht auf, oder zumindest will es niemand wissen. Der Geist, der vorherrscht, ist der einer systematischen Selbsttäuschung, die eine Art Wohlgefühl herbeiführt, das nicht untypisch ist bei Krankheitsverläufen als Vorbote einer dramatischen Verschlechterung. 

Die Symptome sind eindeutig. Die Diagnose ebenso. Mangels eines Eintrages einer derartigen Krankheit in medizinischen Standardwerken muss die Beschreibung helfen. Es handelt sich um Unzurechnungsfähigkeit aus Größenwahn und dem jedem Größenwahn innewohnenden Zweifel an der eigenen Unzulänglichkeit. Denn irgendwo im Innern, das spüren alle, die dieses Wälzen auf dem psychologisch-politischen Krankenbett verfolgen, da nagt die Angst an der eigenen Unzulänglichkeit und beflügelt die destruktivsten Kräfte, die vorstellbar sind. Hinter all dem Getöse lauert die Angst, es doch nicht mehr hinzubekommen, mit sich selbst und der Gesellschaft. Das Prädikat der deutschen Zustände kann insofern nicht mehr anders lauten als prekär. 

Es ist zu empfehlen, alles, was im Vorfeld der anstehenden Wahlen in den gewohnten Kanälen des politischen Diskurses thematisiert und behandelt wird, von außen zu betrachten und mit der Diagnose dessen zu beginnen, was als die prekären deutschen Zustände beschrieben werden muss. Treten Sie zurück, nehmen Sie Abstand und betrachten das Ganze kalten Auges! Und legen Sie sich nicht in das zerwühlte, infektiöse Bett!

Wandel: Momentane und strategische Sicherheit

Der Zustand taucht in einem Leben immer wieder einmal auf: das Gesetzte erscheint plötzlich zweifelhaft, der Rahmen, in dem sich alles abspielt, beginnt Risse zu zeigen, die Akteure im Tableau der eigenen Existenz beginnen ihr Verhalten zu ändern und alles gerät ins Wanken. Von der Faktenlage her ist damit ein normaler Vorgang, der Wandel,  beschrieben, der der Daseinsform der Bewegung zugeschrieben werden kann. Für das Individuum selbst wird dieser Umstand zumeist als Krise erlebt. Das, was die Predigerinnen und Prediger des ewigen Change nicht müde werden zu verkünden, so die Sicht der zumeist verängstigten Individuen, nämlich das Wandel immer auch Chancen beinhaltet, perlt ab und die Angst um die Sicherheit der eigenen Existenz überwiegt.

Die Angst vor der Veränderung ist nichts Neues und sie ist älter als die Anthropologie, die zu erklären versucht, warum sich Menschen in ihrem Ethno- und Sozialmilieu so verhalten, wie sie es tun. Während die Vertreterinnen und Vertreter der konservativen Anthropologie es dabei belassen, die Angst vor Veränderung quasi aus dem Sozialisationsprogramm des Homo sapiens zu erklären und sein Streben nach Sicherheit zu einer Konstante seiner Existenz zu machen, stellen sich andere, kritischere Ansätze, der Frage, ob es nicht eine Qualität im menschlichen Bewusstsein gibt, die in der Lage ist, zwischen einer, nennen wir es momentanen Sicherheit und einer strategischen in der Lage ist, zu unterscheiden.

Das hieße, dass Menschen in der Lage sind, die scheinbare Sicherheit, in der sie leben, als eine trügerische zu entlarven, weil sie es vermögen, die Entwicklung aller bestimmenden Faktoren in die Zukunft zu projizieren und erkennen, dass es fatal sein könnte, wenn die momentane, trügerische Sicherheit nicht durch einen willentlichen, gewaltsamen Eingriff aufgelöst und durch etwas Neues ersetzt werden sollte. So etwas nennt man strategische Weitsicht.

Dass die Globalisierung unter dem Vorzeichen frei agierender Waren- und Finanzmärkte nicht nur Ressourcen erkannt und verbraucht, Produktionsweisen radikalisiert und Verhaltensweisen geändert hat, ist unbestritten. Dass zudem die Sicherheiten, die auf überschau- und kalkulierbaren Zeiträumen basieren, durch die Halbwertzeiten der ökonomischen wie technologischen Entwicklung nicht mehr lange Geltung haben, sollte bewusst sein. An dieser Stelle ist jedoch eine eigenartige Widersprüchlichkeit zu erleben. Obwohl es offensichtlich ist, dass die erlebte Sicherheit in Gefahr ist, wird daran auf Hochtouren gearbeitet, eine Trance herzustellen, die trotz aller sichtbaren Indizien den Trugschluss vorherrschen lässt, alles könne so bleiben, wie es ist und nichts von den bekannten Faktoren der Existenz sei in Gefahr. Es ist das Geschäft der Beschwörer und Demagogen, die das Momentane zu einem Zeitpunkt betonen, wo das Strategische immer bedeutsamer ist.

Neben denen, die das Jetzt beschwören, um der politischen Krise – vergeblich – zu entkommen suchen, tauchen vermehrt auch wieder diejenigen auf, die es schon immer gewusst haben und vor allem mit der Botschaft brillieren, alles ende in einem einzigen Desaster und das sei unvermeidlich. Das scheint ihre Rolle zu sein. Damit vergrößern sie die Ängste vor der notwendigen Veränderung, ohne dazu beizutragen, die Verunsicherten der Notwendigkeit einer strategischen Sicht näher zu bringen. Und diejenigen, die mit der Botschaft hausieren gehen, alles sei doch in Ordnung, legen, ohne dass sie sich dessen immer bewusst sind, die Lunte für das große Feuer, das entsteht, wenn diejenigen, die ihnen vertraut haben, in einer aus ihrer Sicht letzten Eruption ihre Angst in unbändige, destruktive Kraft verwandeln.