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Zuhause im sozialen Keller

Édouard Louis, Das Ende von Eddy

Schon der tatsächliche Name des Autors wirkt wie eine aus der Notwendigkeit inszenierte Provokation. Mit bürgerlichem Namen heißt er Bellegueulle, zu deutsch Schönmaul, was in der Picardie, aus der erklommt, nicht unbedingt eine Seltenheit ist und mal als schlechter Witz, mal als ein Ausruf der Bewunderung gewertet wird. Der unter dem Autorennamen Édouard Louis bekannt gewordene, immer noch sehr junge Autor hat mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ bereits im Jahr 2016 ein Debüt vorgelegt, das es in sich hat. Der Roman ist autobiographisch und handelt von der Sozialisation Eddy Belleguelles, in einer Arbeiterfamilie, nein nicht einmal Parterrre, sondern Keller, unterstes Proletariat, Vater Fabrikarbeiter, Mutter Hausfrau in einer Kaschemme, auf dem Dorf. Sein Zuhause, in dem er aufwächst, ist der soziale Keller. Und, als sei das nicht genug, entdeckt Eddy ziemlich früh, dass etwas mit ihm nicht stimmt, nämlich seine Homosexualität.

Wer nun annimmt, bei dem Roman handelte es sich um eine auf die sexuelle Orientierung fokussierte Erzählung mit der Problematisierung der Diskriminierung im sozialen Prekariat, hat sich gewaltig getäuscht. Selbstverständlich wird diese Erfahrung nicht ausgeklammert, und selbstverständlich nimmt sie Raum ein. Was bei der Lektüre jedoch auffällt, und was dem Autor durch seine direkte, unmissverständliche Sprache gelingt, ist die Darlegung der unzähligen Hindernisse, die in dem Milieu junge Menschen daran hindern, einen Weg zu gehen, der ihren Anlagen und Möglichkeiten entspricht. Und er deutet an, dass vielleicht die besondere Art seiner Diskriminierung ihm den Spalt im Zaun geöffnet hat, durch den er letztendlich geflohen ist.

Die Erzählung geht unter die Haut, vor allem, weil das geschilderte Milieu an die Zeiten nach dem II. Weltkrieg erinnern, in denen noch die Schatten der erlebten Traumata kollektiv herrschten und das Wort Aufklärung noch nicht wieder ins Vokabular aufgenommen worden war. Und es drängt sich unweigerlich die Frage auf, was in den letzten Jahrzehnten eigentlich hier, in Zentraleuropa passiert ist, um große Teile der Bevölkerung in diesen Zustand des Fristens und Dämmerns zurückzustoßen.

Und genau das ist es, was Eddy Belleguelle alias Édouard Louis ebenso umtreibt. Trotz seiner vollen Schatulle an Schmähungen und Verletzungen aus diesem Milieu solidarisierte er sich in der Öffentlichkeit mit diesem und unterstützte die Gelbwesten. Studiert hat er übrigens nach seiner Flucht aus dem Elend bei Didier Eribon, der seinerseits aus dem beschriebenen Milieu stammt und mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ ebenfalls im benachbarten Frankreich große Diskussionen auslöste.

„Das Ende von Eddy“ ist ein Schlag ins Gesicht des etablierten, saturierten und arroganten Milieus, für das man in Deutschland noch einen Namen sucht, den man, genauer gesagt Jean Paul Sartre bereits zu seiner Zeit, in Frankreich längst gefunden hat: Gauche Caviar, die Kaviar-Linke. Der Autor hat das alles begriffen, er seziert das Dasein derer, die gesellschaftlich keine Stimme mehr haben, schonungslos. Weil er es kann, weil er weiß, wovon er spricht!

Die Lektüre ist unbedingt zu empfehlen! Wenn es heißt, die im Dunkeln sieht man nicht, dann macht Édouard Louis mit diesem Buch ein Licht an. 

You can’t go home again!

Didier Eribon. Rückkehr nach Reims

 
Die Geschichte ist so alt wie die Menschheit. Ein junger Mann fühlt sich in den Verhältnissen seiner familiären wie geographischen Heimat zu eingeengt, er wagt den Weg hinaus in die Welt und kehrt nach vielen Jahren wieder einmal heim. Der Vater, der idealtypische Gegenpol der Vergangenheit, ist mittlerweile verstorben und der Diskurs mit der verbliebenen Mutter dient der Vergewisserung des Erinnerten, dem Bericht über das ohne den Sohn Geschehene und dem gescheiterten Versuch einer Verständigung. Für die amerikanische Gesellschaft hat Thomas Wolfe mit seiner Erzählung „You can´t go home again“ Nationalliteratur geschaffen, indem er die Vergeblichkeit der Rückkehr kategorisch an den Schluss setzte.

Nun, in einer Zeit, in dem sein Land Frankreich vor großen Entscheidungen stand und steht, in dem vielen klar ist, dass sich vieles ändern wird, traut sich der heutige Soziologieprofessor und landesweit bekannte Publizist Didier Eribon an die literarische Aufarbeitung seiner eigenen biographischen Rückkehr. Unter dem Titel „Rückkehr nach Reims“ veröffentlichte er bereits 2009 diesen Versuch in Frankreich, seit 2016 ist er auch in deutscher Sprache erhältlich.

Bei „Rückkehr nach Reims“ handelt es sich weder um einen Roman noch eine Erzählung, sondern vielmehr um einen sehr reflektierten, kritischen Diskurs mit sich selbst. Vielleicht könnte es auch als Dialog mit dem anderen Ich bezeichnet werden. Eribons Schilderung seiner frühen Biographie hat insofern klassischen Charakter, als dass er noch einmal das alte, klassenbewusste europäische Proletariat zeigt, dass eine eigene Partei besitzt und vor Selbstbewusstsein strotzt. Die Erzählung zeigt aber auch die Nöte des Underdogs Didier Eribon selbst, der als Jugendlicher, der auf die Bildungsstraße gerät und zudem seine eigene Homosexualität entdeckt. Nach Bildung strebend und außerhalb der Welt der damals paternalistischen Heterosexualität war das Dasein zum Ausgestoßenen vorgeprägt, es sei denn, man bevorzugte die Flucht in die Metropole Paris, was Eribon tat und sich damit rettete.

Dass da jemand schreibt, der sich über die zeitgenössische französische Philosophie zur Soziologie vorgearbeitet hat, wird deutlich, wenn Eribon über die politische Entwicklung des französischen Industrieproletariats reflektiert, das von der mächtigen Säule der kommunistischen Partei abrückte und zunehmend nach rechts driftete und heute in großen Teilen dem Front Nationale zugewandt ist. Die Feststellung, dass der Konservatismus auch in früheren Zeiten präsent war, aber durch den Anspruch der Mobilisierung als politische Kraft neutralisiert werden konnte, während heute die Statik und Passivität dieser verbliebenen sozialen Schicht das Phlegma der unreflektierten Tradition zum größten Faktor macht, gehört zu den Erkenntnissen, die das Buch in Frankreich zu einem Bestseller haben werden lassen.

Die Entschlüsselung des Doppelcharakters sozialer Klassen in Bezug auf ihre politische Mobilisierung ist quasi ein Gewinn der zweiten Art, der sich bei der Lektüre einstellt. Eribon vermittelt mit „Rückkehr nach Reims“, ob willentlich oder nicht, viele Einsichten in das französische proletarische Milieu, in die dortige Klasse der Intellektuellen und die nahezu nationale Affinität zur romantischen Illusion. Vieles, von dem Eribon berichtet, hört sich auch bei deutschen Proletarierfamilien nicht anders an und dennoch existieren viele Details, die es in dieser Form nur in Frankreich gibt. Ein intelligentes Buch, das trotz anderer Absichten auch zu dem Schluss kommt, dass es keine Rückkehr gibt. Allein deshalb ist es zu empfehlen.