Im materialistischen Zeitalter ist die Neigung groß, den Zustand eines Gemeinwesens anhand der Aneinanderreihung von messbaren, harten Fakten zu ermitteln. Der Franzose Emmanuel Todd hat sich bereits vor vielen Jahren daran gemacht, die Sowjetunion mit diesen Mitteln zu analysieren. Er sammelte Daten und sah sich die jeweilige Entwicklung an: zur Lebenserwartung, zur Säuglingssterblichkeit, zum Analphabetismus, zur Selbstmordrate, zum Alkoholismus, aber auch zum Bruttosozialprodukt und der Relation der einzelnen Posten im Staatshaushalt zu denen für Militärausgaben.
Vor allen anderen, vor allem denen von der Ideologie des Kalten Krieges getriggerten, sagte Todd das Ende der Sowjetunion voraus. 10 Jahre, bevor es dann geschah. Dafür wurde er im Westen heftig gefeiert. Dass er nun mit dem gleichen Instrumentarium die USA untersuchte und auch ihr den Niedergang prognostizierte, fand als Information keine große Öffentlichkeit. Todd kommt zu dem Ergebnis, dass die USA sich in einer analogen Situation befinden wie die UdSSR vor ihrem Niedergang. Wer es im Original lesen will: Emmanuel Todd, Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Die Lektüre lohnt sich.
Was bei allen Diskussionen um den Zustand unserer Gesellschaft zu kurz kommt, ist meines Erachtens der Blick auf Kunst und Wissenschaft. Der Quell aller konstruktiven Entwicklung ist deren Freiheit. Ohne Freiheit in Kunst und Wissenschaft wird nichts hinterfragt, nichts gewagt, nichts ausprobiert und nichts toleriert. Man schaue nur auf die Geschichte der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft auf unserem Kontinent. Ohne die philosophische Frivolität eines Voltaire, ohne die Enzyklopädie eines Diderot und ohne den Figaro eines Beaumarchais wäre die französische Revolution nicht so zustande gekommen, wie verlaufen. Kunst und Wissenschaften sind das Momentum, auf das es in starkem Maße ankommt.
Angesichts dieser These, die selbstverständlich nicht von den absolutistisch technokratisch Denkenden akzeptiert werden wird, ist es ratsam, einen Blick auf den Zustand dieser Disziplinen und ihren Institutionen hierzulande zu werfen. Und, um nicht lange herumzureden, von den erforderlichen Freiheiten ist nicht viel übrig geblieben, wenn die Künstlerinnen und Künstler an den Schauspielhäusern so genannte Codes of Conduct unterschreiben müssen, in denen sie zu einem wie auch immer gearteten Wolken Konsens verpflichtet werden oder wenn an den Universitäten den Lehrenden verboten wird, sich an politischen Diskursen zu beteiligen, die als heikel eingestuft werden.
Von der Personalpolitik ganz zu schweigen. Es geht in vielen Fällen nicht nach Können und Leistung, sondern nach Repräsentanz in einem wie auch immer gearteten Diversitätsschema. Was woke und was heikel ist, bestimmen, seien wir ehrlich, eine relativ willenlose politische Kaste und eine monopolisierte Presse. Überall herrscht Konsens, und wer sich dem nicht verpflichtet, der ist raus aus dem Spiel. Und nicht nur das. Ihm oder ihr wird attestiert, sich in der Nähe von Staatsfeinden zu befinden. Das ist Autokratismus und Totalitarismus.
Die Freiheit ist eine andere Kategorie, sie ruht in den Annalen. Kein Film, keine Inszenierung, keine wissenschaftliche Untersuchung, die nicht den von einer Minderheit gepriesenen Zeitgeist wiedergäbe. Staatsdoktrin, Langeweile und unendliche Öde haben Kunst und Wissenschaft erobert. Neben allen Fakten sind das Indizien, die eine Prognose untermauern: Freier Fall!
